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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
Autoren: C.H.Beck
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fuhr. Dann beantragte ich einen Reisepass und vereinbarte einen Termin für die erste Pockenimpfung. Ich war auf dem Weg nach Übersee!
    Eine Unmenge von Ratschlägen traf ein, davon der erste und wertvollste von Jess Whitworth, die mit den Ersparnissen ihrer Pension zweimal nach Europa gereist war und in London ein Haus kannte, wo ich vielleicht wohnen konnte. Ich besuchte sie und ihren Mann Ernest in Northcote und verbrachte den Nachmittag damit, mir ihre einnehmenden Reiseberichte anzuhören. Sie hatte ihre erste Reise gemacht, als sie siebzig war, und war allein mit dem Schiff gefahren, während Ernest, der an realen Reisen nicht interessiert war, zu Hause die Stereoanlage hütete, die er selbst gebastelt hatte, und sichseine Sammlung von Schubert und Mozart anhörte. Jeder, der Jess gekannt hat, wird sagen, dass sie eine bemerkenswerte Frau war. Aus ihrer ersten Ehe mit Oliver Duff hatte sie begabte Kinder. In ihrem Buch
Zwischenspiel in Otago
, das schon damals vergriffen und daher vielen unbekannt war, hatte sie ihre Kindheit als Tochter eines Kneipenbesitzers in Central Otago und ihre Mädchenzeit in Dunedin lebendig geschildert. Jess war Musiklehrerin gewesen und teilte ihre Liebe zur Musik mit ihrem zweiten Ehemann. Sie war lebhaft, klug, belesen, abenteuerlustig und warmherzig, und Ernest, einige Jahre jünger als sie, war ihr treu ergeben.
    Es war ein eigenartiger Zufall, dass ich sechs Monate nach Mutters Tod mit zwei Frauen ihrer Generation befreundet war, die sich vielleicht in ihrer späten Kindheit in ihrer Liebe zu den Künsten und darin, dass sie über einen besonders großen Vorrat an Fantasie verfügten, ähnlich gewesen waren, deren Lebenswege jedoch bemerkenswert waren im Hinblick auf ihre Unterschiede und auf das, was in jeder von ihnen im langen Überlebenskampf erhalten blieb. Auch Jess hatte eine Zeit mit vielen Kindern und vielen Windeln erlebt, in einem Haushalt ohne sehr viel Geld. Paula oder Paul Lincoln hatte sich von ihrer Familie losgesagt; die Ehe meiner Mutter hatte sie ihrer Familie entfremdet, welche diese missbilligte. Während ich Jess und ihren Reisegeschichten zuhörte, musste ich an die ganze Lebenszeit von Wörtern denken, die Mutter nie ausgesprochen hatte: Ich sah, wie sie im Gänsemarsch oder in Zweierreihen (wie das bei Wörtern so ist) zu ihrer Zungenspitze marschierten und dann zur Seite geschoben wurden, weil es nicht der richtige Zeitpunkt war oder niemand da war, der sie hörte, und selbst ihre hastig verfassten Gedichte und Leserbriefe und Gebete an Gott konnten nicht all die wütendenGefangenen befreit haben, die sich im Wartezimmer ihrer Gedanken drängten. Wäre sie doch nur imstande gewesen,
für sich selbst zu sprechen!
    Jess war voll guter Ratschläge: Ich solle ein oder zwei Metallgefäße zum Kochen kaufen und einen kleinen Spirituskocher aus Metall, sodass ich, falls ich in einem Hotel wohnen musste, Geld sparen konnte, indem ich selbst Tee machte und Eier kochte und so weiter. Es gab eine Frau, die in Clapham Common eine Pension führte, mit einer Reihe von Gartenzimmern an der Rückseite des Hauses, erklärte Jess, und es seien immer Zimmer für siebzehn Shilling die Woche frei. Sie schlug mir vor, während meiner ersten paar Nächte in London in der Herberge der
Gesellschaft der Freunde,
der Quäker, am Euston Square zu wohnen und ihnen sofort zu schreiben und ein Zimmer zu buchen. Da sie nur im europäischen Sommer reiste, mit ihren Kochgeräten, zwei oder drei Hosen, zwei Kleidern und einem Unterrock, den sie auch als Nachthemd verwendete, das heißt mit möglichst wenig Gepäck, konnte sie mir keinen Rat geben, was Winterkleidung betraf. Sie empfahl mir einen Geldgürtel.
    «Ein Geldgürtel?»
    «Du steckst dein Geld hinein und befestigst ihn um deine Taille; oder du machst eine kleine Tasche, bindest sie dir um den Hals und lässt sie in den Ausschnitt hängen.»
    «Aha.»
    Jess fuhr immer nach Salzburg und wohnte in einer Pension «gleich um die Ecke von Mozarts Geburtshaus». Bevor ich an diesem Nachmittag ihr Haus verließ, setzte sie sich an ihr altes walnussgoldenes Klavier und spielte zwei frühe Stücke von Mozart.
    Sie lachte. «Früh! Er komponierte sie mit sechs Jahren!»
    Als Nächstes gaben mir Franks Freunde, die aus Spanien zurückgekehrt waren, ebenfalls Ratschläge.
    «Wenn du willst, dass das Geld länger reicht», sagten sie, «dann ist Ibiza der richtige Ort.»
    «Ibiza?»
    «Man schreibt es mit einem ‹z›, aber man spricht es
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