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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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still, dann sagte die Stimme leise: »In einem irrt ihr. Goliath ist kein Monstrum, es ist ein Werkzeug, das von Menschen erschaffen wurde. Von raffgierigen, kalten Menschen, die den Wald vernichten, ohne etwas von den Wundern zu wissen, die sich unter seinem Blätterdach abspielen. Oder noch schlimmer, die seine Pracht kennen und ihn dennoch zerstören. Sie bringen das Holz über das große Wasser. Besser, du erfährst nicht zu viel über diese Welt.« Sie räusperte sich. »Wir werden ihnen nachts auflauern und Krankheiten verbreiten, bis sich niemand mehr für diese Arbeit finden lässt. Versprochen.«
    Ein Windhauch strich über Animaya hinweg, so als wollte ihre Mutter sie ein letztes Mal streicheln. Sie genoss es wie die Umarmung eines geliebten Menschen.
    Als sich die Härchen in ihrem Nacken wieder gelegt hatten, sah sie auf. Der Baum wimmelte von Kolibris. Tausende von ihnen hockten auf Ästen und Zweigen. Auch die anderen Bäume trugen nun flatternde Blüten. Sie verhießen eine bessere Zukunft.

EPILOG
    Es war der kurze Moment zwischen Nacht und Tag, der im Urwald magisch ist. Der letzte Augenblick der Stille. Die Dunkelheit mit ihren bleichen Geistern hatte sich noch nicht ganz zurückgezogen, der Tag aber war bereits den Flügelschlag eines Kolibris alt.
    Hoch oben in den Kronen der Baumriesen begannen sich die Affen in ihren Nestern zu rekeln. Schlangen, von der Kälte der Nacht gelähmt, harrten unter ihren Steinen aus.
    Alles schaukelte. Animaya saß in einer Sänfte, verdeckt durch blickdichte Vorhänge. Wisya kniete zu ihren Füßen und legte letzte Hand an das Hochzeitskleid. Animayas Finger und Arme waren mit Schmuck behangen. Sie platzte beinahe vor Glück. Dort draußen wartete ihr Ehemann, einer, den sie ausgewählt hatte. Wie Wisya ihren Vinoc.
    Jubel brandete auf. Animaya erhob sich und schlug den Stoff zur Seite. Paititi war herausgeputzt wie am Haremsfest. Seine Bewohner standen auf den Straßen und den Stufen des Tempels, sie drängten sich auf dem Dach des Palastes und winkten. Mit fröhlichen Gesichtern warfen sie der jungen Braut Maiskörner in die Sänfte, als Symbol für Fruchtbarkeit.
    Tagelang hatten die Menschen Paititi von Lianen und Bromelien, von Farnen und Pilzen befreit und so aus dem jahrhundertelangen Tiefschlaf geweckt. Die Stadt glänzte. Die Gesandten der Krokodilreiter legten ihre Geschenke nieder, Spinnenmenschen seilten sich von den überhängenden Ästen ab und streuten einen Teppich aus Blüten vor die Sänfte.
    Vor dem Tempel wartete ihr Bräutigam mit der aufgehenden Sonne im Rücken. Gegen das goldene Licht war seine Gestalt kaum auszumachen. Als er auf sie zuging, hielt die Menge gespannt den Atem an.
    Doch das bekam Animaya nicht mit. Sie sah nur die schimmernden Wassertropfen auf seiner Brust, hinter der sein Herz schlug. Natans Herz. Und es schlug allein für sie.
    Als Mann und Frau bestiegen sie den Thron inmitten ihrer Untertanen. In einem freien Land.
    Â»Sternauge?«
    Â»Perlenhaut?«
    Ihre Lippen fanden sich zu einem langen Kuss. Animaya seufzte innerlich. Es stimmte: Der Kuss des Krokodilreiters war magisch …

Thilo P. Lassak verbrachte den Großteil seiner Kindheit in der elterlichen Buchhandlung – die optimale Vorbereitung auf seine spätere Laufbahn als Kinder- und Jugendbuchautor. Nach dem Studium der Publizistik machte er zunächst mit seiner Kabarettgruppe Die Motzbrocken von sich reden. Daneben arbeitete er für Funk und Fernsehen und schrieb zahlreiche Drehbücher. Heute lebt er mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Mainz.

    Â© Thomas Barth

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