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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri
Autoren: Thilo P. Lassak
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vorbei.
    Endlich sah sie vor sich etwas glitzern: den Knochenfluss. Bis dahin waren es nur noch ein paar Mannslängen. Hoffnungsvoll krabbelte sie weiter.
    Die Lamaguas würden sicher am anderen Ufer stehen und, wie Natan sie gebeten hatte, dort auf sie warten. Wenn sie Kapka fand, war sie in Sicherheit. Animaya holte tief Luft und tauchte in den Fluss hinein. Drei Züge, vier Züge, fünf Züge. Schon zerschnitten ihr die scharfen Blätter der Uferpflanzen die Finger. Der Sauerstoff wurde knapp.
    Animaya durchbrach die Wasseroberfläche – und starrte in das feixende Gesicht von Kapnu Singa. Er war wieder auf Normalgröße geschrumpft, aber das Lachen war geblieben.
    Der gesamte Fluss wimmelte von Kriegern. Ein Trupp Generäle führte gerade Natan und Pillpa gefesselt durch das Tor in die Stadt. Kapka und der andere Hengst trabten gehorsam hinter ihnen her.
    Es war vorbei.

ANIMAYAS HINRICHTUNG
    Die Sonne stand hoch am Himmel, als wollte auch Gott Inti dem Schauspiel beiwohnen. Auf dem Festplatz drängten sich die Menschen. Die Generäle hatten sie von der Arbeit weggerissen und hier zusammengetrieben. Eine unerwartete Pause, über die sich aber niemand so recht zu freuen schien. Dafür waren Tupacs Männer zu grob mit ihnen umgesprungen.
    Drei hastig behauene Bäume, jeder gut drei Schritte lang, wurden in die Erde gerammt, auf der das Volk erst vor Kurzem das Haremsfest gefeiert hatte. Drei Bäume für drei Hinrichtungen. Die Trommler, die ergeben herbeieilten, schlugen lautlos auf ihre felllosen Instrumente. Die Zuschauer warteten schwei gend ab. Einzig der Umstand, dass sich ein Krokodilreiter unter den Häftlingen befinden sollte, hellte die Stim mung ein bisschen auf. Gehört hatte man von ihnen und ihren grausamen Taten schon viel, aber einen gesehen hatte noch kaum jemand.
    Als das Stadttor aufschwang, ging ein leises Raunen durch die Menge. Kapnu Singa humpelte mit steinerner Miene auf den Platz. Und wer kam hinter ihm? Die Leute stellten sich auf die Zehenspitzen und reckten die Hälse, um die Verurteilten besser erspähen zu können.
    Drei Kinder wurden von Kriegern hereingeführt, zwei Mädchen und ein Junge. Keiner von ihnen hatte eine grüne Haut – ein Irrtum? Was konnten sie schon so Schreckliches begangen haben, dass Kapnu Singa sich nicht damit begnügte, sie zu ewigem Schweigen zu verdammen?
    Langsam schleppten sich die Jammergestalten in ihren schmutzstarren Gewändern die Prachtstraße entlang. Das hin tere Mädchen war obendrein blind, ging aber trotzdem mit erhobenem Haupt durch das Spalier. Viele der Zuschauer senkten betroffen den Blick.
    Sonst war es üblich, die Verbrecher zu bespucken, die Verachtung mit Hieben und Tritten zum Ausdruck zu bringen. Oft schon waren die Gefangenen halb tot auf dem Richtplatz angekommen. Nicht so an diesem Tag.
    Die Stimmung im Volk, das merkte jeder der Anwesenden, hatte sich geändert. Es lag etwas in der sengend heißen Luft. Und wo waren überhaupt die Kastenlosen aus dem Armenviertel?
    Nur einer, ein ungewöhlich dicker Mann in der Tracht der Klingenschleifer, trat vor und versetzte dem vorderen Mädchen eine schallende Ohrfeige.
    Animayas Wange brannte. Sie hatte Calicos Hand nicht kommen sehen. Sie hatte gar nichts gesehen. Seit sie aus dem Knochenfluss aufgetaucht war, war ein halber Tag vergangen, das sagte ihr die Sonne. Hände und Füße waren gefesselt, was Animaya zu kurzen Schritten zwang.
    Man hatte sie an die Spitze dieses kleinen Zuges gesetzt und auf diese Weise zum Rädelsführer gebrandmarkt. Hinter ihr war Pillpa, am Ende Natan. Animaya und Natan, hatten die Generäle wohl gemutmaßt, würden die meisten Schläge abbekommen. Aber außer ihrem widerlichen Nachbarn erhob niemand die Hand gegen sie.
    Es war eine ungewöhnliche, unheilschwangere Atmosphäre, das spürte Animaya mit jeder Faser ihres Körpers. Als wüssten die Einwohner, dass diese Hinrichtung auch ihr eigenes Schicksal besiegeln würde. Bleich wirkten die Menschen, kraft los und mager.
    Breitbeinig stellte sich Kapnu Singa auf den Hügel. Je zwei Generäle fesselten Animaya, Pillpa und Natan an die behauenen Bäume. Für Animaya wählten sie den mittleren. Dann traten sie zur Seite und verschwanden vom Festplatz. Die Bühne gehörte heute jemand anderem.
    Die fünf Sänften des Inka wurden von starken Kriegern herbeigetragen. Die Menschen
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