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Blendend

Blendend

Titel: Blendend
Autoren: Emma Green
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1. Ein ganz besonderes Meeting
    Zum ersten Mal seit 22 Jahren finde ich keinen Gefallen an Weihnachten. Ich fühle mich, als gehörte ich nicht hierher, obwohl ich dieses Haus und die Menschen darin so gut kenne. Ich habe das Gefühl, zu ersticken. Ich bin in meinem Elternhaus, wie in jedem Jahr, um mich herum alle, die ich liebe … und denen ich mich nun so fern fühle. Meine über alles geliebten Eltern, die seit mehr als 30 Jahren verheiratet sind. Diese stille und selbstverständliche Liebe, um die ich sie so lange beneidet habe, die ich auch erleben wollte, erscheint mir nun todlangweilig. Camille, meine ältere Schwester, ihr Mann und ihr Baby, diese perfekte Familie, die keiner geplant hatte und die einfach "passierte". Mein kleiner Bruder Simon, gerade mal volljährig, klein und arrogant, der glaubt, alles über das Leben zu wissen, weil er eine kurze Liebschaft nach der anderen anschleppt. Und meine Großmutter, eine traurige Witwe, die nur noch in der Vergangenheit lebt. Zum ersten Mal in meinem kurzen Leben frage ich mich, was ich hier mache. Mein Körper ist hier, doch meine Seele denkt nur an ihn. Gabriel.
    Ich bin nicht bei dieser Feier, ich bin noch immer in der Toskana. Ich muss nur die Augen schließen, und schon erlebe ich erneut diese magischen Momente, dieses intensive und romantische Wochenende, zu dem er mich eingeladen hat, seine Haut an meiner Haut, die Muskeln, die sich unter meinen Händen anspannen, seinen Körper tief in mir. Es scheint noch so nah und ist doch schon so fern.

    – Wir setzen uns zu Tisch, Amandine.
    Meine Mutter reißt mich brutal aus meinen Träumen und wirft mir, als sie sieht, wie weit weg ich mit meinen Gedanken bin, einen halb amüsierten, halb mitfühlenden Blick zu.

    – Du verschweigt mir doch etwas, mein Töchterchen. Komm zu uns und lass das Telefon doch mal liegen, es ist Weihnachten. Wo wir endlich mal wieder alle zusammen sind …
    Ich stecke das Handy in die Tasche meiner Jeans und schlurfe mit einem Seufzen zu meiner Familie.
    Das Abendessen dauert eine Ewigkeit. Ich versuche, einen guten Eindruck zu machen, und greife hundert Mal durch den Stoff an mein Handy, weil ich glaube, es vibrieren gespürt zu haben. Ein Vibrieren wäre schön. Gabriel hat meine Nummer. Warum ruft mich mein schöner Liebhaber nicht an? Das hat er bis jetzt noch nie getan, und ich fühle mich dumm, weil ich auf sein Zeichen warte … und mich nicht traue, ihm eines zu geben.
    Nach dem Öffnen der Geschenke, die fast die gleichen sind wie im vergangenen Jahr, sehe ich ein letztes Mal zu meinen Verwandten und zu dieser kitschige Szene, die sich jedes Jahr aufs Neue wiederholt, und laufe dann ins Badezimmer, wo ich mich einsperre. Ich nehme mein Handy aus der Tasche und tippe, ohne nachzudenken:
    "Wann werde ich dich wiedersehen?"
    Ich schicke die Nachricht ab. Schon bereue ich es, ihm geschrieben zu haben, als eine Antwort auf dem Display aufleuchtet.
    "Früher, als du denkst. Ich habe eine Überraschung für dich. Frohe Weihnachten, Amandine."
    Zwei Tage sind nun seit dieser rätselhaften Nachricht vergangen. Ich bin wieder in der Arbeit und versuche meine Ungeduld mehr schlecht als recht zu verstecken, sowohl vor den anderen als auch vor mir selbst. Heute Morgen ist Éric, mein Chef, gut gelaunt, er ist es nicht gewohnt, drei Tage hintereinander freizuhaben. Ich starre auf meinen Computer und versuche, mich zu konzentrieren. Um genau zehn Uhr trinke ich meinen zweiten Kaffee des Tages und verschlucke mich fast. Diese Stimme. Seine Stimme. Gabriel ist hier. Ich habe ihn noch nicht gesehen, doch ich spüre ihn, jede Faser meines Körpers spürt ihn.
    Seine und Érics Schritte nähern sich. Ich atme tief ein und versuche, eine passende Miene aufzusetzen. Lächelnd, jedoch gleichgültig. Gabriel geht über den Flur. Er sieht umwerfend aus in seinem marineblauen Trenchcoat, als er seinen langen, beigefarbenen Schal abnimmt. Die schmalen hellblauen Streifen darauf bringen seine Augen zum Strahlen, diese blauen Augen, die mich keines Blickes würdigen. Der Mann, der mich vor einer Woche so lang liebte, sieht mich nun nicht einmal an. Ich sehe, wie er geht, sehe seine breiten Schultern, seine blonden Haare, die ich so durcheinandergebracht habe, seinen gebräunten Hals, an dem ich mich festgehalten habe, und möchte schreien. Oder weinen. Doch Éric lässt mir nicht die Zeit dazu, er ruft mich in sein Büro. Mister Diamonds hätte vor unserem Termin gerne einen Kaffee. Schwarz und stark.
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