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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri
Autoren: Thilo P. Lassak
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Satz. »Es erkennt den wahren Thronfolger zwischen allen anderen. Dieser von den Göttern gewollte Nachfolger wird Tupac im Kampf töten. Dann wendet sich das Böse von Paititi ab.«
    Längst ahnte Animaya die Lösung: Es war Natan. Er war im richtigen Alter. Er strahlte Stolz, Kraft und Weisheit aus. Die Königin musste ihren Säugling den Krokodilreitern anvertraut haben. Dort war Natan zu einem der ihren erzogen worden.
    Kapnu Singa ohrfeigte Animaya abermals heftig. Dann fragte er lachend: »Und wo soll dieses zweiköpfige Vieh bitte sein?«
    Auf einmal sprang ein Brüllaffe vom Baum herunter und zerrte Wisya die Schlange vom Hals. Die Yatiri warf den Oberkörper herum und schleuderte einen Blitz auf das Stadttor. Das Holz barst. Und aus dem Rauch trat ein kleines Lamaguafohlen. Mühsam hielt es das Gleichgewicht, denn aus seinem Körper ragten zwei Hälse.
    Ein Raunen ging durch die Menge. Einige standen mit offenem Mund staunend da. Die Krieger, die Animaya und Pillpa eben noch töten wollten, senkten die Waffen.
    Ohne jedes Anzeichen von Angst wackelte das Fohlen durch das Spalier der Einwohner auf den Henkersplatz zu. Es schnüf felte hier, schnüffelte da. Roch an Händen und Fingern und Füßen und blieb doch kaum stehen.
    Â»Der wahre Herrscher ist hier!«, rief Animaya. »Sein Name ist …«
    In diesem Moment geschah etwas noch nie Dagewesenes: Tupac schlug den Vorhang seiner Sänfte zur Seite. Groß und breitschultrig lag er auf seinem Lager. Neben ihm auf dem Kissen ruhte die Goldene Maske. Er war also doch nicht geflohen wie fast alle Generäle. Scheinbar hatte er sich dieses Schauspiel nicht entgehen lassen wollen.
    Schwungvoll sprang er aus der Sänfte, ein Bild von einem Herrscher. Nur an seinen Augen erkannte Animaya den Mann, der ihr im Keller des Tempels begegnet war. Und am Schwert, dem Meisterstück. So scharf, dass es ein fallendes Blatt zerschneiden konnte. Tupac zog es geräuschvoll aus der Scheide.
    Der gottgleiche Inka war von seinem Thron herab zu den Menschen gestiegen! Die Einwohner Paititis warfen sich vor Glückseligkeit schluchzend auf den Boden. Der Wind auf dem Platz hatte sich gedreht.
    Â»Gepriesen sei Tupac!«, flüsterten die Menschen wie aus einem Munde. »Unser Herr und Gebieter.«
    Â»Dieses Tier ist eine Missgeburt«, ertönte Tupacs Stimme über die Lobpreisungen hinweg. »Erlösen wir es von seinen Leiden!«
    Er hob das Schwert. Das Fohlen, ohne den Ernst seiner Lage zu begreifen, stakste weiter auf den Henkersplatz zu.
    Wisya wollte sich auf das Kleine stürzen, aber Kapnu Singa errichtete mit seinem Mantel ein undurchdringliches Hindernis für sie.
    Â»Neeeeeeeeeeeeeeiiiiin!«, schrie Animaya. Aus tiefster Seele machte sie ihrer Verzweiflung Luft.
    Sie riss an ihren Fesseln. Der schmale Baum, in Eile aufgestellt, hob sich aus der Erde. Erstaunt über ihre plötzliche Freiheit, kämpfte sich Animaya mit der Last einen Schritt vorwärts. Dann wurde ihr der Baum zu schwer und sie kippte mit ihm zur Seite. Sein oberes Ende krachte auf Tupacs Kreuz. Mit zerschmettertem Rückgrat ging er in die Knie. Dabei rutschte ihm das erhobene Schwert aus der Hand und spaltete ihn vom Kopf bis zum Brustbein. Augenblicklich erlosch die strahlende Gestalt, die Kapnu Singas Macht ihm verliehen hatte. Der Tote war klein, hässlich und beinahe glatzköpfig.
    Animaya lag im Gras, etwas Raues kitzelte ihre Wangen: die beiden Zungen des Lamaguafohlens.

AM KOLIBRIBAUM
    Fünf Reiter folgten dem blutroten Kolibri immer tiefer in den Wald hinein. Die Lamaguas waren gut genährt und liefen in gleichmäßigem Tempo.
    Schon bald erreichten sie das Gebiet, wohin die Affen geflohen waren. Wo die Vögel sich versteckten, wo Reptilien und Amphibien und Tausende Arten von bunten Schmetterlingen und Käfern durch die Luft schwirrten so wie früher, vor Goliaths Ankunft.
    Die Anführerin der Truppe war vierzehn Jahre alt und von hoher Geburt. Hinter ihr ritten ein Krokodilreiter, ebenfalls Häuptlingssohn, und ein gleichaltriges Mädchen mit toten Augen.
    Der vierte saß etwas ungelenk auf seinem Lamagua. Er war deutlich älter, trug ein harziges Lasso über der Schulter und blickte immer wieder voller Sehnsucht zu den Baumkronen hinauf. An seinem Hüftgurt baumelte Kapnu Singas verschrumpelter Kopf. Der Tyrann hatte für seine Grausamkeiten bezahlen
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