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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri
Autoren: Thilo P. Lassak
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Pillpas Worte. Aber um sich ganz der Schönheit des Lebens hingeben zu können, war noch ein großer Schritt nötig. Die Prophezeiung der Goldenen Maske besagte, dass es ihr möglich sein würde, das drohende Unheil von Paititi abzuwenden.
    Animaya sah sich um. Welcher Baum war der richtige? Einzig Achachi wusste es. Er schwebte eine Armlänge entfernt vor Animayas Gesicht. Als sich der Kolibri flügelschwingend auf den Weg machte, teilte sich plötzlich das Blätterdach. Ein ohrenbetäubendes Krächzen erklang.
    Anaq, Kapnu Singas blutrünstiger Kondor, sauste im Sturz flug auf Animaya zu. Dem letzten Befehl seines Herrn folgend, bremste er mit den gewaltigen Schwingen ab, wirbelte herum und spreizte die Klauen. Animaya konnte nicht einmal die Hände vors Gesicht reißen. Natan schrie auf, erreichte seinen Köcher aber nicht rechtzeitig. Vinoc blieb keine Zeit, das Schwert zu ziehen. Das Lasso ruhte auf Moras Schulter.
    Achachi flog mit fünfzig Flügelschlägen in der Sekunde zu Animaya zurück. Kurz bevor Anaq sie erreicht hatte, schoss er auf den Kondor zu und stach ihm seinen langen Schnabel ins Herz. Anaq fiel besiegt zwischen die Blumen. Dreimal noch bäumte er sich auf, dann erlosch das Licht in seinen Augen.
    Animaya brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Der daumengroße Kolibri kämpfte damit, seinen Schnabel aus dem Kondorgefieder zu ziehen. Zwischen den schwarzen Federn des gewaltigen Vogels war er kaum auszumachen.
    Endlich kam Achachi frei. Der Kolibri schüttelte den Kopf und schwirrte weiter, als sei nichts gewesen. Dann hockte er sich auf den untersten Zweig eines Baumes. So weit Animaya erkennen konnte, war es der einzige, der überhaupt noch ein Blatt trug. Die letzte Hoffnung …
    Â»Danke!«, sagte Animaya mit bebender Stimme. Am Fuß des Baumes hob sie mit den Fingern ein faustgroßes Loch aus. Vorsichtig zog sie das Herz der gefolterten Albina aus der Tasche ihres Kleides und bettete es in das kleine Grab. Anschließend legte sie sich mit der Nase nach unten auf den Bo den, so wie sie es Tinku Chaki abgeschaut hatte. Links und rechts von ihr taten es ihr Pillpa und Natan, Mora und Vinoc nach.
    Â»Mutter«, flüsterte Animaya, und Tränen traten ihr in die Augen. »Wir Menschen bitten dich und alle Albinas um Hilfe. Als Zeichen, dass wir es ehrlich meinen, habe ich das Herz eurer getöteten Schwester zu euch zurückgebracht.« Animaya holte tief Luft. »Ihr müsst nicht mehr böse sein. Alle, die euch verraten haben, sind längst gestorben. Auch ihre Nachfolger, die uns opfern wollten, weilen nicht mehr unter uns. Eine neue Zeit beginnt. Das flüsternde Volk wird nun von mir regiert – nur dass niemand mehr flüstern muss. Ich werde Frieden schließen mit allen Stämmen, denn der Krieg ging von uns aus. Krokodilreiter und Spinnenmenschen schicken ihre mächtigsten Vertreter zu euch, mit dieser einen Bitte: Helft uns! Haltet Goliath auf, der mit seinem Heer den Wald vernichtet, nur ihr habt die Macht dazu.«
    Animaya spürte einen kühlen Lufthauch. Wie im Tempel, als Milacs Seele an ihr vorbei in die Steinfigur geschlüpft war.
    Und eine Stimme fragte: »Wirst du uns dann auch all das Unheil verzeihen, das wir deinem Volk aus Hass angetan haben?«
    Die Worte klangen gedämpft, wie durch eine Wand gesprochen. Und doch war es Animaya, als erkenne ihr Herz die Stimme wieder – als die ihrer eigenen Mutter.
    Â»Ja, ihr habt mein Wort. Und wenn ihr Goliath aufhaltet, werden wir euch keinen Grund mehr liefern, uns jemals wieder zu hassen.«
    Einen Moment lang herrschte Schweigen.
    Â»Verzeihst du mir auch, was ich dir angetan habe?«, fragte die Stimme. »Um den einzigen wahren Thronfolger zu retten, habe ich dich, die Tochter des Inka, gegen Tinku Chakis schwer krankes Baby eingetauscht. Es starb, noch bevor mich die Generäle einfingen. So war Kapnu Singas Mordlust befriedigt. Regiere nun, mache das Unrecht wieder gut, das dein Vater an seinem Volk begangen hat. Und erst recht dein Onkel Tupac.«
    Animaya holte tief Luft. »Wisya hat mir die Augen geöffnet, das war auch euer Werk, denn ihr Albinas habt sie als Baby nicht sterben lassen. So lebe ich nun ohne Hass auf meine Familie. Und ihr vertreibt Goliath, dieses Monstrum. Dann geht auf in der Schönheit der Welt, denn eure Aufgabe in der Geschichte des Waldes ist erfüllt.«
    Lange blieb es
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