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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri
Autoren: Thilo P. Lassak
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das Animaya nicht zu deuten wusste. Vinoc verhielt sich immer so merkwürdig und das machte ihr Angst. Manche behaupteten, er habe durch die Folterungen der Spinnenmenschen nicht nur seinen kleinen Finger verloren, sondern auch seinen einst so scharfen Verstand.
    Â»Pscht!«, sagte er ein drittes Mal. Dann wischte er mit der flachen Hand vor Animayas Gesicht herum, als würde er mit einem Tuch über eine Tischplatte streichen.
    Sogleich verzog sich die Kälte aus Animayas Körper, die sie beim Anblick der Gefangenen erfasst hatte. Sie wurde ruhiger. Die Gedanken an das bevorstehende Fest drängten sich wieder in den Vordergrund. Was während der Aufstehsperre in den Straßen passierte, ging niemanden etwas an, außer den Inka. So war es und so sollte es immer sein.
    Â»Dein Vater wäre stolz auf dich, wenn er noch am Leben wäre«, wisperte Vinoc mit seltener Klarheit. »Eine so schöne, kluge Frau. Nach dem Fest bist du erwachsen, die Kindheit ist vorbei! Morgen wirst du dich entscheiden, wie du deinem Volk dienen willst.«
    Vinocs Worte machten Animaya stutzig. Sie hatte sich schon von ihm abwenden wollen, um den Tag noch einmal neu zu beginnen, blieb jetzt aber nachdenklich stehen. Glaubte Vinoc etwa, dass sie eine Wahl hatte? Morgen wirst du dich entscheiden … Dabei war es doch der Inka, der die Entscheidun gen traf. Er suchte Jungfrauen für seinen Harem. Die Mädche n selbst konnten sich nur so hübsch wie möglich zurechtmachen.
    Â»Meinst du, ich habe eine Chance?«, fragte sie Vinoc leise.
    Am Haremsfest für den Inka ausgesucht zu werden, war eine große Ehre. Die größte, die einem jungen Mädchen zuteilwerden konnte. Die Ehre breitete sich aus wie ein Lauffeuer. Auf ihre Familie, die Hausgemeinschaft, die gesamte Straße. Die Betroffenen fühlten sich dann ein paar Wochen lang allen anderen überlegen, aus deren Kreis kein Mädchen erwählt wurde.
    Aber sie? War sie wirklich hübsch genug?
    Â»Viele Menschen setzen große Hoffnungen auf dich«, gab Vinoc zur Antwort.
    Animaya wurde rot. Seit zwei Jahren schon bemerkte sie die verstohlenen Blicke der jungen Männer. Registrierte, dass sie die Köpfe zusammensteckten und tuschelten, wenn Animaya vorüberging. Sie gefiel sich ja selbst, wenn sich ihr Gesicht beim Waschen im Wasserbassin spiegelte. Aber schön? Schön waren doch eher andere. Pillpa mit ihren hohen Wangen knochen zum Beispiel. Oder Nawi, deren Lächeln jedes Herz erwärmte.
    Â»Komm, du musst deine Suppe essen«, flüsterte Vinoc und schob Animaya vor sich her. »Suppe, gute Suppe, dicke Suppe.« Er schien wieder in seine eigene Welt abgeglitten zu sein.
    Mit einem Mal ertönte draußen ein hundertfaches Flügel schlagen. Die zahmen Papageien des Inka wurden ausgeschickt, um die Untertanen aus dem Schlaf zu krächzen – die Aufstehsperre war aufgehoben.
    Animaya drehte sich zu ihnen um. Und da sah sie ihn! Ein blutroter Kolibri schwirrte in Zickzacklinien unter der Decke des Flurs herum, als hätte er sich in einem Netz verfangen. Er pfiff: dreimal lang, einmal kurz. Dann flatterte er durch die offene Haustür davon.
    Animaya wusste augenblicklich, dass das kein Zufall war. Der Vogel hatte ihr die gefangene Albina zeigen wollen. Aber warum?
    Die Aufregung war schlagartig zurück. Animaya entwand sich Vinocs Griff und rannte aus dem Haus. Der Himmel war übersät vom Grün, Gelb und Blau der Papageien. Und vor allem vom vielen Rot. Es war schier unmöglich, dem Kolibri mit den Augen zu folgen. Animaya sah ihn noch ein paar Sekunden lang, dann löste er sich zwischen den Flügeln und Schwanzfedern der Papageien scheinbar in Luft auf.
    Mitten auf dem Platz der Reinheit stoppte Animaya und drehte sich im Kreis. Doch sosehr sie sich auch anstrengte, der geheimnisvolle Kolibri blieb verschwunden.

WASCHUNG
    So lautet das erste heilige Gesetz: Der Wald ist böse. Nur in den Mauern von Paititi ist das Volk sicher.
    Zum Morgenappell waren die Bewohner der Unterstadt vor den Stufen des Großen Tempels angetreten. Exakt hundert Menschen standen in jeder Reihe. Links, rechts, vorne und hinten je eine Armlänge voneinander entfernt. So wirkten sie wie unzählige Säulen einer Kathedrale, die gemeinsam die schwere Last des Daches auf ihren Schultern trugen.
    Jeder harrte kerzengerade aus, vom Kind bis zum Greis, und hatte den Blick starr auf das Tor gerichtet.
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