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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri
Autoren: Thilo P. Lassak
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in einem jämmerlichen Zustand, das konnte Animayas geübtem Blick nicht entgehen. Auf der Brust des vorderen Reiters prangte das dreistufige Kreuz – es war Kapnu Singa höchstpersönlich! Auch der zweite war ein General. Unter seinem Helm lugte eine weiße Haarsträhne hervor, sein Gesicht war nicht zu erkennen.
    Trotz der Gefahr stellte sich Animaya auf die Zehenspitzen. Sie konnte nicht anders. Das Lamagua von Kapnu Singa schleifte etwas hinter sich her, verborgen unter dem schwarzen Umhang der Yatiri. Plötzlich rutschte der Mantel auf die Straße und blieb liegen. Etwas Weißes kam darunter zum Vorschein.
    Der Schock traf Animaya bis ins Mark. Was sie zunächst für einen abgewetzten, zusammengerollten Teppich gehalten hatte, entpuppte sich als lebendig. Es zappelte wie ein Fisch im Netz.
    Der Körper des Wesens war größer wie der eines Menschen und halb durchsichtig. Er schien keine feste Form zu haben, sondern sich immer wieder nebelartig zu verändern. Mit dem schmalen Fuß voraus steckte der Gefangene in einer bronzenen Kette, die an Kapnu Singas Gürtel endete. Der Kopf schlug bei jedem Sprung des Lamaguas hart auf den Boden auf und verformte sich dann in grotesker Weise, was der Krea tur aber offenbar nicht wehtat. Ihre Haare wanden sich dabei wie Rauchfäden um den bleichen Schädel.
    Während das Wesen voller Wut aufheulte, wandte es Animaya sein abstoßendes Gesicht zu. In seinem Maul loderte eine Zunge aus Flammen, die wild hin und her zuckten. Die Ohren waren nur Löcher an den Seiten des Kopfes, die Augen höhlen zugewachsen. Es war eindeutig eine Frau. Sie musste Animayas rasendes Herz gehört haben.
    Animaya zuckte heftig zusammen, als sie endlich begriff, was für ein Wesen Kapnu Singa da mit sich schleifte: eine Albina!
    Jetzt versuchte die Kreatur, ihre Klauen ins Pflaster der Straße zu schlagen, aber er riss sie unbarmherzig weiter. Als ein vorwitziger Sonnenstrahl die Gefangene traf, brüllte sie auf, als hätte jemand kochendes Wasser über sie gekippt. Die Stelle, wo der Strahl die Albina berührt hatte, qualmte wie nasses Feuerholz.
    Animaya atmete stoßweise. Wie hatte sie nur so töricht sein können! Wenn Kapnu Singa auf sie aufmerksam wurde, war ihr vierzehntes Lebensjahr gleichzeitig ihr letztes. Kein Glückstag, ihr Todestag war heute!
    Ãœber den kleinen Platz hinweg preschten die Tiere genau auf sie zu. Im letzten Moment sprang Pillpa hinter das Wasserbecken und versteckte sich. Die Männer schienen sie nicht bemerkt zu haben, denn sie drosselten ihr irrwitziges Tempo kein bisschen.
    Animaya wollte zurück in die schützende Dunkelheit des Hausflurs, aber die Beine versagten ihr den Dienst. Du hast dem Inka nicht gehorcht, nun empfange deine gerechte Strafe!, schimpfte ihre innere Stimme.
    Animaya empfand den augenlosen Blick der Albina wie einen Messerstich in die Brust. Tiefste Verzweiflung lag darin, die Kreatur flehte um Hilfe. Eiseskälte stieg in Animaya hoch. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus und sie schrie lautlos auf.
    Kurz bevor die Reiter ihr Haus erreicht hatten, legte sich eine schwere Hand auf Animayas Mund und zog sie mit einem Ruck in die Finsternis des Ganges.
    Â»Vater!«, entfuhr es Animaya viel zu laut. Ihr Verstand war wie vernebelt. Sie wirbelte herum und erwartete eine kräftige Umarmung.
    Einen Augenblick lang spielte ihr die Sehnsucht einen Streich. Sie sah das Lächeln ihres Vaters vor sich, die liebenden Augen, den sanften Schwung seiner Nase. Und nahm seinen herben Geruch nach Maisstroh und Tabak wahr. Vor Glück wurde ihr ganz leicht ums Herz und sie fühlte sich, als hätte sie Flügel.
    Doch dann verschwamm das Bild von ihrem Vater und sie sah ein verhutzeltes Männchen: Vinoc, ihren einfältigen Nach barn. Den Rücken gebeugt, das Gesicht genauso aschgrau verfärbt wie seine letzten verbliebenen Haare.
    Draußen jagten die Reiter vorbei. Die stille Zeugin war ihnen nicht aufgefallen.
    Â»Pscht!«, machte Vinoc. »Es wäre doch ein Jammer, wenn dich die Generäle so kurz vor deinem großen Fest zurechtstutzen müssten!« Er nuschelte stark, da ihm die meisten Zähne ausgefallen waren.
    Â»Sie haben eine Albina! Kapnu Singa hat eine Albina! Die dürfen doch nichts von unserer Stadt wissen, sonst …«
    Â»Pscht!«, ermahnte sie der Alte erneut. Ein seltsames Lächeln umspielte seine Lippen. Ein Lächeln,
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