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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind
Autoren: S Friedrich
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    Was folgt auf das Ende, was liegt vor dem Anfang? Das Korn ist eingebracht, die Felder sind leer. Der Nachmittag ist farbensatt, warm wie das Fell eines Hundes, der in der Sonne schläft. An Silberfäden segeln winzige Spinnen durch die Stille, sichtbar-unsichtbar, schwebend in den Aufwinden der Thermik. Der Garten liegt im Rausch von Goldmohn, Dahlien, Zinnien, Sonnenblumen, die den kommenden Winter nicht überstehen werden. Ist hier jemand? Hat jemand gerufen? Die Zeit kräuselt sich.
    Die Zeit strudelt in Wirbeln, und die Geschichte entfaltet sich, sie rollt sich auf wie ein Farnblatt, verzweigt sich, sie teilt sich in Stränge, die sich umeinander winden und zu Spiralen, Wendeln, Spindeln verschlingen, bis der Anfang wieder mit dem Ende verschmilzt, das nichts ist als ein weiterer Anfang: ein warmer goldener Indian-Summer-Nachmittag 1917 in Milwaukee, der deutschesten Stadt Amerikas.
    Amerika und Deutschland befinden sich miteinander im Krieg. Das deutschsprachige Pabst-Theater ist geschlossen. Die deutschsprachigen Zeitungen und Magazine, die in den Cafésauszuliegen pflegten, haben das Erscheinen eingestellt. Sauerkraut heißt neuerdings Freiheitskohl. Bismarckrolle heißt Schöne Amerikanerin. Das Goethe-Standbild steht noch im Stadtpark, aber die Germania ist vom Brumder Newspaper Building entfernt worden. Mildred Fish und ihre Freundin Grace Carlsruh sitzen auf einer Bank hinter dem Carlsruh-Haus im Garten.
    Mildred hat keine deutschen Vorfahren, im Gegensatz zu Grace und vielen anderen an der West Side High School. Sie hat trotzdem am Deutschunterricht teilgenommen. Aber damit ist es vorbei. Die Schülerinnen der West Side High rollen Verbände, stopfen Strümpfe und errichten Fahnenstangen im Schulhof. Und Mildreds Gedicht ›Our Boys‹ über die kämpfende Truppe wird nächste Woche in der Schülerzeitung ›Comet‹ erscheinen:
    Perhaps a nobler life is theirs in death.
    How little of the debt we can repay –
    Das hat Mildred geschrieben. Mildred schreibt sehr talentiert, das sagen alle. Für ihre Geschichte über wahre christliche Liebe in Kriegszeiten hat sie letztes Jahr sogar einen Preis gewonnen, eine Kodak-Kamera im Wert von acht Dollar, Mildred weiß genau, was christliche Liebe ist. Ihre Mutter ist eine Anhängerin der Christlichen Wissenschaft. Sie hat Mildred beigebracht, dass das Böse in Wahrheit gar nicht existiert. Leid und Kummer, Schmerz und Verzweiflung, Krankheit und Tod sind nichts als Trugbilder. Wirklich ist allein die Liebe, die stark ist wie der Tod.
    Mildred selbst ist keine Anhängerin der Christlichen Wissenschaft. Aber sie glaubt an die Macht der Liebe. Sie glaubt an die Einheit von Gott, Natur und Mensch. Alles ist heilig. Alles ist vom Wesen des Göttlichen durchdrungen: Das glaubt Mildred ganz fest. Sie und Grace Carlsruh reden eine Mengeüber solche Themen. Im Moment reden sie aber über Miss Simmons, ihre Englischlehrerin.
    »Sie ist ein Trampeltier«, sagt Grace zu Mildred. »Und sie ist humorlos. Sie hat Betty eine Strafarbeit aufgegeben, nur weil Betty im Unterricht gelacht hat.«
    »Sie ist vor allem geistlos«, sagt Mildred. »Was sie über Dichtung sagt, ist niemals tief empfunden oder eigenwillig gedacht. Es ist immer nur ein ganz mechanisches Gerede.« Mildred überlegt. Dann weiß sie es.
    »Es ist ein Dröhnen wie von einem Staubsauger. Und man selbst ist der abgewetzte Teppich, dem sie die letzten Fäden eigener Gedanken herauszieht.«
    Mildred lächelt, weil Grace lacht. Sie sitzen im Schatten nebeneinander und trinken Limonade. Die Limonade hat ihnen Mrs. Carlsruhs irisches Mädchen gemacht. Die Carlsruhs haben ein Mädchen. Bei den Fishs wäre man froh, wenn man Limonade hätte. Man wäre froh, wenn man jeden Abend satt ins Bett gehen könnte, schuld an der Misere ist Mildreds Vater.
    Der Vater ist ein Versager, der nur an seine Pferde und an den Whisky denkt. Die Mutter hat ihn längst aus dem Haus geworfen. Sie schultert die ganze Last allein. Sie verdient sehr wenig, mit ihrer Arbeit. Sie geht aber aufrecht. Sie ist schmal, überarbeitet und zäh, aber sie hält den Kopf hoch, auch wenn sie für fremde Leute putzt, um ihre vier Töchter durchzubringen.
    Die Älteste, Harriette, ist inzwischen verheiratet. Mildred ist die Jüngste. Sie wird studieren. Sie wird schreiben, so wie die Journalistin und Literaturkritikerin Margaret Fuller aus dem Kreis der neuenglischen Transzendentalisten um Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau. Ganz sicher bedeutet
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