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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri
Autoren: Thilo P. Lassak
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Häuser flogen an ihnen vorbei, beinahe verschwunden unter Orchideen und großblättrigen Gewächsen, für die sich noch niemand die Mühe gemacht hatte, einen Namen zu suchen. Wenige Anzeichen gab es, dass in diesen Ruinen fünftausend Menschen lebten.
    Die Reiter näherten sich endlich dem Zentrum, wo sich die faltigen Bretterwurzeln mehrerer Baumriesen gen Himmel reckten.
    Blut rann aus den Wunden der erschöpften Lamaguas. Sie liefen links herum, rechts herum. Die Mauern des Königspalastes entlang, an ihren Stallungen vorbei. Bromelien quetschten ihre Wurzeln in seine hauchdünnen Fugen. Aus den Kelchen ihrer Blätter glotzten knallrote Frösche. Raus aus der Oberstadt, auf den Großen Tempel zu. Dicke Lianen umschlangen das heilige Gebäude und ließen seinen Eingang nur erahnen.
    Kapnu Singa warf einen Blick auf die Front der Wohnhäuser. Die Untertanen lagen noch in ihren Betten, so war es Gesetz. Wenn es jemandem einfiele, die Regeln des Inka gerade heute zu brechen, würde Kapnu Singa ihm, ohne zu zögern, den Schädel einschlagen. Was sie zu berichten hatten, war geheimer als geheim. Dass sie überhaupt mit dem Leben davongekommen waren – wenigstens sie beide –, grenzte fast an ein Wunder.
    Die kreischenden Riesenvögel am Himmel hatten ihn die nahende Katastrophe schon vor einiger Zeit erahnen lassen. Jetzt hatte er Gewissheit: Die Goldene Maske hatte wieder die Wahrheit gesprochen. Die erste Prophezeiung war eingetroffen. Damit die zweite Prophezeiung nicht auch noch wahr wurde, hatte Kapnu Singa diesen halsbrecherischen Ausflug unternommen.
    Dem Inka war die Entscheidung abgenommen worden. Nun musste ein stärkerer Mann ans Werk: Kapnu Singa selbst.

VERBOTENE PFIFFE
    Animaya lag mit geschlossenen Augen auf der Holzpritsche in ihrer Kammer und hielt den Atem an. Ihr Herz raste. Sie kannte die Gesetze auswendig, die der damalige Inka beim zwölften Konzil festgelegt hatte, denn sie wurden jeden Morgen beim Appell vor dem Großen Tempel wiederholt:
    Wer außerhalb der Stadtmauern pfeift, dem soll dreißig Tage lang der Mais vorenthalten werden. Wer innerhalb der Stadtmauern pfeift, dem sollen die Finger abgehackt werden, die er dazu benutzt hat. Denn er schadet seinem Volk, weil er den Albinas den Weg weist.
    Außerdem war noch Aufstehsperre, doppelt Grund zur Strafe. Und doch stand ihr Vater vor dem Haus und pfiff aus Leibeskräften ihr geheimes Erkennungszeichen – dreimal kurz, einmal lang. Das war noch aus einem anderen Grund ungewöhnlich: Tinku Chaki war seit zwei Jahren tot.
    Animaya war immer eine treue Untertanin gewesen. Sie befolgte jede Regel des Inka gern und peinlich genau. Er war ein gerechter Herrscher, der seine Untertanen alle gleichermaßen liebte, solange sie nach den Gesetzen lebten. Nun aber zuckte es in ihren Gliedern, aufzustehen und hinauszusehen. Sie lauschte andächtig. Da! Tinku Chaki pfiff erneut.
    Es war noch sehr früh am Morgen, das wusste Animaya, auch ohne die Augen zu öffnen. Sie konnte den Nebelhauch der Nacht auf ihrer Haut spüren. Nur langsam zog er sich aus den Straßen Paititis zurück in den Dschungel. Wie ein Tier, das die Häuser für einen späteren Beutezug erkundet hatte.
    Die Eingänge der Häuser zu verschließen, egal ob bei Tag oder Nacht, ist verboten. Dem Volk schaden Geheimnisse eines Einzelnen, alle dürfen alles wissen. Der Inka sorgt für die Sicherheit seiner Untertanen vor den Albinas.
    Wieder ertönte das Pfeifen. Es konnte also kein Traum gewesen sein. Dreimal kurz, einmal lang. So hatte ihr Vater sie immer begrüßt, wenn er von seiner Arbeit bei den Göttertieren zurückgekehrt war. Dabei hatte er die Luft so zart durch die gespitzten Lippen gepresst, dass ihnen kaum hörbare Laute entfuhren. Wenn Animaya dann antworten wollte, hatte er ihr seinen rauen Zeigefinger auf den Mund gelegt und sie fest an sich gedrückt. Sie vermisste ihn fürchterlich, gerade heute, so kurz vor ihrem großen Tag.
    Animaya kannte sich nicht besonders gut aus mit Toten. Bisher hatte sie angenommen, dass sie für immer in der Erde bleiben würden. Zumindest wenn sie nicht heilig waren. Doch irgendwie schien es ihr Vater geschafft zu haben, sich aus seinem Grab loszureißen.
    Animaya hatte Angst, ihn zu verscheuchen, indem sie die Augen öffnete. Als sie es schließlich wagte, sprang ihr das Herz vor Aufregung fast aus der
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