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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri
Autoren: Thilo P. Lassak
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trat in den Flur. Ihre Nachbarn in den anderen Zim mern schliefen noch oder taten zumindest so, was auch gesün der war. Gesünder, als während der Aufstehsperre herumzulaufen. Wieso legte sie sich nicht wieder hin? Wenn einer der Generäle des Inka oder auch nur ein Wachtposten sie sah …
    Ein weiteres Mal erklang draußen die kleine Melodie. Vater, flehte sie im Stillen, geh nicht weg, bevor ich dich begrüßt habe!
    Animaya stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte auf den Weg hinaus. Da war kein großer, starker Mann mit blauschwarzen Haaren und fröhlichem Gesicht. Da war niemand. Wie konnte das sein? Animaya nahm all ihren Mut zusammen und machte einen halben Schritt vor die Tür. Allein das war schon Hochverrat!
    In der Ferne entdeckte sie Pillpa, ihre beste Freundin, in einem blütenweißen Kleid. Sie stand auf dem Platz der Reinheit und wusch sich die Haare. Während der Aufstehsperre! Hatte die Aufregung vor dem großen Fest ihr den Geist verwirrt? Aber Pillpa konnte nicht gepfiffen haben, sie kannte das geheime Zeichen nicht.
    Animaya merkte, dass sie zitterte. Die feinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. Sie drehte den Kopf. Zwischen den Urwaldriesen jenseits der Stadtmauer ging die heilige Sonne auf, wie sie es wohl schon unzählige Male getan hatte. Doch für Animaya war dieser Anblick neu – und er raubte ihr den Atem. So unmittelbar hatte sie Sonnengott Inti noch nie gegenübergestanden.
    Sie weinte beinahe vor Ergriffenheit. Die Welt war so schön! Die Farbe des Himmels wechselte von Blau zu Gold. Hatte ihr Vater sie deshalb aus dem Haus gelockt? Um ihr dieses Wunder zu zeigen?
    Wie auf einen unhörbaren Befehl hin erwachte der Dschun gel. Affen brüllten, Papageien begannen zu krächzen, Frösche quakten. Ihnen gebot niemand, leise zu sein, und das war ein Glück. Im Lärm der Tiere gingen die wenigen Geräusche unter, die das flüsternde Volk von sich gab. Nur deshalb hatte es bis heute überlebt, davon war Animaya fest überzeugt. Und weil sich alle an die Regeln hielten.
    Wer im Umkreis der Stadt ein Tier verletzt, das Laute von sich gibt, dem sollen dieselben Verletzungen durch die Hand der Generäle zugefügt werden. Denn der Gesang der Tiere legt sich schützend über das Flüstern des Volkes.
    Animayas Blick glitt an der Oberseite der Mauer entlang. Von den Wachen waren gegen die aufsteigende Sonne nur die Umrisse zu erkennen. Stolz hielten sie ihre langen Speere von sich. In der Morgenröte blitzten ihre Rüstungen. Ein weiteres Mal hatten sie es geschafft, durch ihre Anwesenheit jeden Angriff aus der Dunkelheit zu verhindern.
    Aber irgendetwas stimmte nicht. Sie standen nicht stocksteif da wie sonst, sondern liefen unruhig hin und her. Noch nie hatte Animaya sie derart in Aufruhr gesehen. Sie verbat sich jede Frage nach dem Grund, denn das ging nur die Generäle etwas an.
    Dann eroberten die Sonnenstrahlen auch die Straßen, eine Handbreite nach der anderen krochen sie näher an Animaya heran. Wie die Pranken eines Jaguars verscheuchten sie die Nacht endgültig aus der Stadt.
    Plötzlich fiel eine der Wachen rücklings von der Mauer. Der Anblick ließ Animaya zusammenfahren. Wie lange stand sie schon ungeschützt vor dem Haus? Zehn Herzschläge lang? Hundert? Tausend? Sie hatte nicht die leiseste Ahnung. In ihrem Kopf klang noch immer das Pfeifen nach. Dreimal kurz, einmal lang. Sie würde die Melodie den ganzen Tag über in sich tragen wie eine geweihte Speise. Das würde ihr Glück bringen, da war sie sich sicher.
    Hektisch sah Animaya sich um. Wo war nur ihr Vater? Sie konnte unmöglich in ihre Kammer zurückkehren, ohne ihn gesehen zu haben!
    Dann drangen andere Geräusche an ihr Ohr. Die Schläge von Lamaguahufen hallten von den Mauern der engen Gassen wider. Noch waren sie weit entfernt in der Oberstadt nahe dem Tor, im Stadtteil der Adeligen. Doch sie kamen näher. Klapp-klapp, klapp-klapp! Die Lamaguas jagten im vollen Galopp durch die Stadt, ohne sich um den Lärm zu kümmern. Nur die Generäle konnten sich so einen Regelbruch ungestraft erlauben.
    Was hatte das zu bedeuten? Die Unruhe auf der Mauer, die tote Wache, Lamaguas in höchster Eile. Jetzt ließen sich die Fragen nicht länger unterdrücken. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihrem Bauch breit.
    In diesem Augenblick bogen die Tiere in ihre Straße ein. Zwei Stück,
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