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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Autoren: Tad Williams
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Vorspann
    > Im Schlamm fing es an, wie so vieles.
     
    In einer normalen Welt wäre Frühstückszeit gewesen, aber in der Hölle wurde offenbar kein Frühstück serviert; das Bombardement, das vor Tagesanbruch losgegangen war, sah nicht danach aus, als wollte es nachlassen. Dem Gefreiten Jonas stand der Sinn ohnehin nicht nach Essen.
    Bis auf die kurze Zeit des panischen Rückzugs über ein Stück schlammiger Erde, das wüst und verkratert war wie der Mond, hatte Paul Jonas diesen ganzen vierundzwanzigsten Tag des Monats März 1918 genauso zugebracht wie die drei Tage davor und wie den Großteil der letzten paar Monate – zitternd zusammengekauert im kalten, stinkenden Schleim irgendwo zwischen Ypern und St. Quentin, betäubt von dem schädelerschütternden Donner der schweren deutschen Geschütze, blindlings zu Irgend Etwas betend, woran er längst nicht mehr glaubte. Er hatte Finch und Mullett und den Rest der Einheit im Chaos des Rückzugs irgendwo verloren – hoffentlich, dachte er, hatten sie wohlbehalten einen anderen Teil der Gräben erreicht, aber es fiel schwer, sehr weit über das eigene Fleckchen Elend hinauszudenken. Die ganze Welt war naß und pappig. Die aufgerissene Erde, die skelettartigen Bäume und Paul selbst waren alle reichlich von dem Nieselschleier besprüht worden, der jedesmal langsam niederging, wenn wieder etliche hundert Pfund rotglühenden Metalls in einer Schar Menschen explodiert waren.
    Roter Nebel, graue Erde, der Himmel fahl wie alte Knochen: Paul Jonas war in der Hölle – aber es war eine ganz besondere Hölle. Nicht alle darin waren schon tot.
    Einer ihrer Bewohner etwa, stellte Paul fest, ließ sich weiß Gott Zeit mit dem Sterben. Dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen konnte der Mann nicht weiter als zwei Dutzend Meter entfernt sein, aber er hätte genauso gut in Timbuktu sein können. Paul hatte keine Ahnung, wie der verwundete Soldat aussah – seinen Kopf aus eigenem Antrieb über den Rand des Schützengrabens zu heben, war nicht minder undenkbar, als aus eigener Willenskraft zu fliegen –, aber was er nur allzu gut kannte, war die Stimme des Mannes, die seit einer vollen Stunde fluchte, schluchzte und vor Schmerzen wimmerte und jede kleine Pause zwischen dem Kanonengebrüll ausfüllte.
    Die übrigen Männer, die während des Rückzugs getroffen worden waren, hatten alle den Anstand besessen, rasch zu sterben oder wenigstens leise zu leiden. Pauls unsichtbarer Kamerad hatte nach seinem Feldwebel, nach seiner Mutter und nach Gott geschrien, und als keiner davon kam, hatte er einfach so weitergeschrien. Er schrie immer noch, ein schluchzendes, wortloses Heulen. Nachdem er ein gesichtsloser Landser wie Tausende anderer gewesen war, schien der Verwundete jetzt entschlossen zu sein, jedermann an der Westfront zum Zeugen seines Sterbens zu machen.
    Paul haßte ihn.
     
    Das schreckliche Krachen der Einschläge verstummte. Ein göttlicher Moment der Stille trat ein, bis der Verwundete wieder anfing zu kreischen; er pfiff wie ein kochender Hummer.
    »Hast du mal Feuer?«
    Paul drehte sich um. Helle biergelbe Augen starrten neben ihm aus einer Schlammaske heraus. Die Erscheinung, auf Händen und Knien kauernd, hatte einen Feldmantel an, der so zerschlissen war, daß er aus Spinnweben zu bestehen schien.
    »Was?«
    »Hast du mal Feuer? Ein Streichholz?«
    Die Normalität der Frage inmitten von so viel Irrealem überraschte Paul dermaßen, daß er nicht wußte, ob er richtig gehört hatte. Die Gestalt hob eine Hand hoch, nicht minder schlammig als das Gesicht, und hielt ihm ein schlankes weißes Röllchen vor die Nase, so strahlend sauber, als wäre es eben vom Mond gefallen.
    »Hörst du schlecht, Mensch? Feuer?«
    Paul langte in seine Tasche und fummelte mit tauben Fingern darin herum, bis er eine Schachtel Streichhölzer gefunden hatte, in verblüffend trockenem Zustand. Der verwundete Soldat fing an, noch lauter zu heulen, einen Steinwurf entfernt in der Wüste verloren.
    Der Mann im abgerissenen Feldmantel ließ sich an die Wand des Grabens zurückkippen und schmiegte die Krümmung seines Rückens in den schützenden Schlamm, dann zerpflückte er die Zigarette behutsam in zwei Teile und gab einen davon Paul. Als er das Streichholz anzündete, neigte er lauschend den Kopf.
    »Gütiger Himmel, schreit der da oben immer noch!« Er gab die Steichhölzer zurück und hielt die Flamme still, damit Paul seine Zigarette auch anzünden konnte. »Hätte der Fritz ihm doch richtig eine
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