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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla
Autoren: Robert Wilson
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ist alles gesagt und getan und geschrieben und gefilmt … jetzt bleibt nur noch eins«, erwiderte Julio.
    Er trat hinter Falcón und drehte dessen Stuhl wieder. Auf dem Tisch befanden sich das Glas Mandelmilch, das ledergebundene Tagebuch und der Polizeirevolver. Julio nahm ein Messer, um die Fesseln an Falcóns rechter Hand durchzuschneiden.
    »Ich muss jetzt gehen«, sagte er und warf das Messer auf den Tisch. »Du weißt, was du zu tun hast. Du solltest nicht noch mehr davon ertragen müssen, als du ohnehin schon durchgemacht hast.«
    Ihre Blicke trafen sich und wandten sich wieder dem Revolver, dem Tagebuch und dem Glas Milch zu – der Erinnerung an alles, was Falcón getan und verloren hatte.
    »Dort ist deine Lösung«, sagte Julio. »Die einzige Möglichkeit, alles zu Ende zu bringen und für immer hinter dir zu lassen.«
    Schweiß brach aus auf Falcóns Handflächen und seiner Stirn. Er nahm den Revolver, klappte die Trommel auf und sah, dass alle Kammern geladen waren. Er löste die Sicherung, er betrachtete die Waffe in seiner zitternden Hand und hob sie langsam zu seinem Kopf. In diesem Moment erschien ihm Selbstmord durchaus reizvoll. Es war die einfachste Lösung in Anbetracht dieses plötzlichen Nichts. Seine Vergangenheit war verschwunden, seine Zukunft brüchig und ungewiss. Die Liebe seines Vaters … hatte es nie gegeben. Nur Hass, den er, Javier, genährt hatte … durch seine bloße Existenz. Und, wo stand er jetzt? War er überhaupt noch Javier Falcón? Die Fäden, die ihn zusammenhielten, waren Trauer und Schuld; wenn man daran zupfte, würde er auseinander brechen. Und das alles könnte ganz einfach vorbei sein. Mit einem kleinen Druck auf den Abzug konnte er das Reservoir all seiner Schmerzen wegpusten.
    Eine Mauer seiner Erinnerung gab plötzlich nach, und durch seinen verwirrten Verstand strömte plötzlich die Erinnerung an jenen Kuss seiner Mutter, der ihn für immer mit ihrer Liebe gezeichnet hatte. Eine Erinnerung, die den Jungen in ihm wach rief, der er für sie gewesen war – und die ihm einen neuen Weg aufzeigte, einen Teil des gewaltigen Knotens entwirrte, in dem er sich verfangen hatte.
    Ein Druck war von ihm genommen. Er gehörte nicht zu dem Mann, den er als seinen Vater gekannt hatte, und doch … war da immer etwas gewesen. Sie waren untrennbar verbunden, aber … wodurch? War es so simpel gewesen, wie Julio behauptet hatte? War Javier für seinen Vater nur die lebende Erinnerung an all sein Scheitern gewesen? War er das Symbol des Hasses? Oder war die letzte Tat seines Vaters ein Ausdruck der allgegenwärtigen menschlichen Ambivalenz? Unsere fortwährenden Bedürfnisse machen uns schwach, das Unglück führt uns auf tückischen Wegen zu unwürdigen und verachtenswerten Taten, und doch fühlen wir uns immer wieder zu der ursprünglichen Kraft einer Beziehung hingezogen. Raúl zu Arturo, Ramón zu Carmen. Francisco Falcón zu Javier.
    Indem er ihm seine Tagebücher aufgedrängt hatte, hatte ihm sein Vater etwas mitteilen wollen. »Jetzt weißt du, was für ein Mensch ich war, du darfst mich ruhig hassen und dich von aller Schuld freisprechen.«
    Falcón drehte sich um. Julio stand noch in der Tür und wartete. Zitternd streckte Falcón den Arm aus und richtete die Waffe auf Julios Gesicht, dessen oberflächliche Schönheit verschwunden war und nur seine vom Wahnsinn verzerrten Gesichtszüge übrig gelassen hatte.
    »Komm her«, sagte Falcón nicht unfreundlich, und Julio gehorchte. Er kam so nahe heran, bis der Lauf der Pistole seine Stirn berührte.
    »Ich werde dich nicht erschießen«, fuhr Falcón fort, dessen anderes Handgelenk immer noch an den Stuhl gefesselt war.
    Dann ging alles ganz schnell. Noch bevor Falcón überlegen konnte, welche Worte diesen gestörten Verstand erreichen könnten, riss der Junge die Hände hoch. Mit der einen packte er Falcóns Handgelenk, mit der anderen drückte er den Abzug, und der gewaltige Knall eines Schusses erfüllte das Zimmer und den Patio und hallte durch das leere Haus.
    Julio wurde mit Wucht nach hinten geschleudert und krachte durch die Glastür in den Patio. Sein Blut breitete sich auf den Marmorfliesen aus und sickerte auf den gemauerten Kreis des Brunnens zu.

    Um 23 Uhr war der levantamiento del cadaver abgeschlossen, der Juez de Guardia – nicht Esteban Calderón – gegangen. In Anwesenheit von Comisario Lobo hatte Ramírez Falcóns erste Aussage aufgenommen, während sämtliche relevanten Indizien abtransportiert
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