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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla
Autoren: Robert Wilson
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seiner Nase festgezogen und an der hohen Rückenlehne des Stuhls verknotet worden, sodass sich die geschnitzten Konturen irgendeines alten Wappens in seine Kopfhaut gruben. Und da war noch etwas. Dios mío, ¿qué me has hecho? … was hast du mit mir gemacht?
    Die Tränen kullerten warm über seine Wangen in seine Mundwinkel und tropften auf sein weißes Hemd. Er hatte den metallischen Geschmack eines Skalpells auf der Zunge. Was hast du mit mir gemacht ? Der Bildschirm kam ihm entgegen und blieb vor seinen Knien stehen. Zu viel passierte auf einmal. Cagney, der das Mädchen brutal küsste. Das Kabel, das in seine Nasenscheidewand schnitt. Die Panik, die von seinen Füßen aufstieg und, sich unaufhörlich steigernd, durch seinen ganzen Körper schwappte, in seine Organe sickerte und seine sich verengende Halsschlagader verstopfte. Unbesiegbar. Unerträglich. Unvorstellbar. Seine Gedanken rasten, seine Augen brannten, die Tränen strömten. Seine Lider – stoppelige Linien, die in der Dunkelheit brannten – bewegten sich auf seine schwarzen, glänzenden Pupillen zu und versengten das Weiß seiner Augen.
    Eine Pipette tauchte in seinem brennenden Gesichtsfeld auf, an ihrem Glasröhrchen hing ein zitternder Tautropfen, den seine Augen begierig tranken. Tranken und nach mehr verlangten.
    »Jetzt wirst du alles sehen«, sagte die Stimme. »Und ich sorge für die Tränen.«
    Der Tropfen fiel auf das Auge. Das Videoband ruckelte und quietschte auf seinen Spulen. James Cagney und sein Mädchen wurden von einer schleichenden Echse verschlungen. Dann kam das Schreien – und die fürsorgliche Verabreichung von Tränen.

1
    Donnerstag, 12. April 2001, Edificio Presidente,
    Los Remedios, Sevilla

    Begonnen hatte es in dem Moment, als er das Zimmer betreten und das Gesicht gesehen hatte.
    Der Anruf war um 8.15 Uhr gekommen, als er das Haus gerade verlassen wollte – eine Leiche, vermutlich Mord, und die Adresse.
    Semana Santa. Es war nur gerecht, dass in der Karwoche zumindest ein Mord geschah, auch wenn das natürlich keinerlei Wirkung auf die Menschenmengen haben würde, die das tägliche Zusammentreffen bebender heiliger Jungfrauen auf ihren Sänften verfolgten, die alle auf dem Weg zur Kathedrale waren.
    Langsam fuhr er aus der Einfahrt des riesigen Hauses in der Calle Bailén. Die Reifen ratterten über das Kopfsteinpflaster der leeren, engen Straßen. Während der Semana Santa war die Stadt, die zu jeder Jahreszeit nur widerwillig erwachte, um diese Stunde besonders still. Er fuhr auf den Platz vor dem Museo de Bellas Artes. Die ocker gerahmten, weiß getünchten Fassaden thronten schweigsam hinter hohen Palmen, den beiden riesigen Gummibäumen und den noch nicht erblühten Palisanderbäumen. Er öffnete das Fenster, um die vom Tau noch frische Morgenluft hereinzulassen, fuhr zum Guadalquivir hinunter und folgte der von Bäumen gesäumten Paseo de Cristóbal Colón. Als er an den roten Toren der Puerta del Príncipe in der barocken Fassade der Plaza de Toros, La Maestranza, vorbeifuhr – die in der Woche vor der Feria de Abril die ersten Stierkämpfe sehen würde –, empfand er beinahe so etwas wie Zufriedenheit.
    Mehr Glück erlebte er dieser Tage nie, und so versuchte er, es festzuhalten, als er hinter dem Torre del Oro rechts abbog, die Altstadt hinter sich ließ und den Fluss überquerte, den die frühe Morgensonne in zarten Dunst hüllte. An der Plaza de Cuba wich er von seiner gewohnten Route zur Arbeit ab und folgte der Calle Asunción. Später würde er versuchen, sich an diese Momente zu erinnern, weil es die letzten eines Lebens waren, das er bis dahin für einigermaßen befriedigend gehalten hatte.
    Er erinnerte sich, dass der neue und sehr junge Juez de Guardia, der zuständige Staatsanwalt, der in dem blitzsauberen, in weißem Marmor gehaltenen Flur von Raúl Jiménez’ Wohnung im sechsten Stock des Edificio Presidente auf ihn wartete, versucht hatte, ihn zu warnen.
    »Machen Sie sich auf etwas gefasst«, hatte er gesagt.
    »Worauf?«, hatte Falcón gefragt.
    In dem nachfolgenden verlegenen Schweigen hatte Javier Falcón den Anzug des Juez de Guardia einer gründlichen Musterung unterzogen und entschieden, dass er entweder italienisch oder von einem führenden spanischen Designer sein musste, Adolfo Dominguez vielleicht. Jedenfalls ziemlich teuer für einen jungen Staatsanwalt wie Esteban Calderón, der 36 und kaum ein Jahr im Amt war.
    Dieser wollte angesichts Falcóns augenscheinlichem Desinteresse vor
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