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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla
Autoren: Robert Wilson
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Standort des TV-Wagens sowie über die Tatsache, dass Jiménez üblicherweise in einem Lederdrehsessel ferngesehen hatte, dessen runder Fuß einen Abdruck auf dem Parkett hinterlassen hatte. Der Mörder hatte Jiménez außer Gefecht gesetzt, den für seine Zwecke ungeeigneten Ledersessel weggedreht und einen der Gästestühle mit hoher Rückenlehne herangezogen, damit er sein Opfer mit einer Drehbewegung von einem auf den anderen Stuhl bugsieren konnte. Anschließend hatte der Mörder die Handgelenke seines Opfers an die Armlehnen gefesselt, ihm die Socken abgestreift und in den Mund gestopft, die Knöchel gefesselt. Dann hatte er den Stuhl so lange auf den Beinen hin- und hergedreht, bis er ihn in die Idealposition geschoben hatte.
    »Da sind seine Schuhe«, sagte Jorge und wies mit dem Kopf unter den Schreibtisch. »Ein paar ochsenblutrote Slipper mit Troddeln.«
    Falcón zeigte auf eine abgetretene Stelle im Parkett. »Jiménez hat sich offenbar gern die Schuhe abgestreift und vor dem Fernseher die nackten Füße auf dem Holzboden gerieben.«
    »Während er sich schmutzige Filme angesehen hat«, sagte Felipe, während er eine der Videohüllen untersuchte. »Dieser heißt Cara o Culo I – Gesicht oder Arsch I.«
    »Aber wieso steht der Stuhl ausgerechnet dort?«, fragte Jorge. »Warum hat er sämtliche Möbel verrückt?«
    Javier Falcón ging zur Tür und breitete die Arme aus. »Für die maximale Wirkung.«
    »Der war auf eine richtig große Show aus«, sagte Felipe. »Auf der anderen Hülle steht mit rotem Filzstift La Familia Jiménez , und im Videorekorder steckt eine Kassette gleichen Titels mit derselben Handschrift.«
    »Das klingt ja nicht besonders grausam«, meinte Falcón, und alle blickten auf das blutige Grauen in Jiménez’ Gesicht, bevor sie sich wieder an ihre Arbeit machten.
    »Ihm hat die Show jedenfalls nicht gefallen«, sagte Felipe.
    »Wenn man irgendwas nicht ertragen kann, sollte man es sich nicht ansehen«, ließ sich Jorge von unter dem Schreibtisch vernehmen.
    »Ich konnte Horror-Filme noch nie leiden«, bemerkte Falcón.
    »Ich auch nicht«, sagte Jorge. »Ich ertrag es einfach nicht, diese … diese …«
    »Diese was?«, fragte Falcón, überrascht über sein eigenes Interesse.
    »Ich weiß nicht … die Normalität, diese unheimliche Normalität.«
    »Wir brauchen alle ein bisschen Angst, um uns auf Trab zu halten«, sagte Falcón und musterte seine rote Krawatte, während auf seiner Stirn erneut der Schweiß ausbrach.
    Jorge stieß dumpf mit dem Kopf gegen die Unterseite der Schreibtischplatte.
    »Joder.« Scheiße. »Wisst ihr, was das ist?«, fragte er und kroch unter dem Schreibtisch hervor. »Das ist ein Stück von Raúl Jiménez’ Zunge.«
    Die drei Männer schwiegen.
    »Tüte sie ein«, sagte Falcón.
    »Hier werden wir keine Fingerabdrücke finden«, sagte Felipe. »Die Hüllen sind sauber, genau wie der Videorekorder, der Fernseher, der Schrank und die Fernbedienung. Der Typ war vorbereitet.«
    »Der Typ?«, fragte Falcón. »Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen.«
    Felipe setzte eine maßgefertigte Vergrößerungsbrille auf und begann mit einer gründlichen Inspektion des Teppichs.
    Falcón war erstaunt über die beiden. Er war sicher, dass sie in ihrer Laufbahn noch nie etwas derartig Furchtbares gesehen hatten, zumindest nicht hier unten in Sevilla. Und trotzdem waren sie … Er zückte ein zu einem perfekten Quadrat gebügeltes Taschentuch und tupfte seine Stirn ab. Nein, das war nicht Jorges oder Felipes Problem, sondern seins. Sie benahmen sich genau so, wie er es normalerweise tat und wie er es ihnen als einzig richtige Art erklärt hatte, eine Mordermittlung anzugehen. Kalt und leidenschaftslos. Die Arbeit eines Ermittlers, hörte er sich im Vorlesungssaal der Akademie dozieren, ist eine emotionslose Arbeit.
    Und was war so anders an Raúl Jiménez? Warum dieser Schweißausbruch an einem kühlen, klaren Aprilmorgen? Er wusste, wie man ihn in der Jefatura Superior de Policía, dem Polizeipräsidium in der Calle Blas Infante, nannte. El Legarto. Die Eidechse. Eigentlich hatte er gehofft, dass er sich diesen Spitznamen wegen seiner körperlichen Unbewegtheit verdient hatte, wegen seiner ausdruckslosen Gesichtszüge, der Neigung, seine Gesprächspartner intensiv anzusehen. Doch Inés, seine kürzlich von ihm geschiedene Frau, hatte dieses Missverständnis für ihn aufgeklärt. »Du bist kalt, Javier Falcón. Du bist kalt wie ein Fisch. Du hast kein Herz.« Und
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