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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla
Autoren: Robert Wilson
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dem 45-jährigen Chefinspektor der Mordkommission – oder, besser gesagt, dem Inspector Jefe del Grupo de Homicidios de Sevilla – nicht naiv erscheinen. Immerhin begutachtete Javier Falcón seit mehr als 20 Jahren Mordopfer in Barcelona, Saragossa, Madrid und jetzt in Sevilla.
    »Sie werden schon sehen«, erwiderte er Calderón also mit einem nervösen Schulterzucken.
    »Kann ich dann an die Arbeit gehen?«
    Calderón nickte und erklärte, dass die Policía Científica gerade erst ins Haus gelassen worden sei, sodass man vorerst nur eine erste Begutachtung des Tatorts vornehmen könne.
    Falcón ging den Korridor zu Raúl Jiménez’ Arbeitszimmer hinunter und überlegte, wie man sich wohl auf etwas gefasst machte. An der Wohnzimmertür blieb er stirnrunzelnd stehen. Der Raum war leer. Er drehte sich zu Calderón um, der ihm den Rücken zugewandt hatte und der secretaria etwas diktierte. Falcón warf einen Blick in das ebenfalls leere Speisezimmer.
    »Wollten die ausziehen?«, fragte er.
    » Claro , Inspector Jefe«, sagte Calderón, »die einzigen Möbel in der ganzen Wohnung sind ein Bett in einem der Kinderzimmer und Senhor Jiménez’ komplettes Arbeitszimmer.«
    »Heißt das, die Señora Jiménez ist mit den Kindern bereits in der neuen Wohnung?«
    »Wir wissen es nicht genau.«
    »Meine Nummer zwei, Inspector Ramírez, sollte in ein paar Minuten eintreffen. Schicken Sie ihn umgehend zu mir.«
    Während Falcón bis zum Ende des Korridors weiterging, war er sich jedes seiner Schritte auf dem polierten Parkett bewusst. Sein Blick war auf einen Haken an der nackten Wand am Ende des Flures gerichtet; die quadratische Fläche darunter war heller als ihre Umgebung. Dort musste ein Bild oder ein Spiegel gehangen haben.
    Er streifte ein Paar Chirurgenhandschuhe über, betrat das Arbeitszimmer, sah von seinen latexbedeckten Handflächen auf und blickte in Raúl Jiménez’ Grauen erregendes Gesicht, das ihn anstarrte.
    Da hatte es angefangen.
    Es war keineswegs so, dass er erst später in der Rückschau erkannt hatte, dass dies der Wendepunkt gewesen war. Es war nichts Subtiles daran gewesen. Eine Veränderung der Körperchemie macht sich sofort bemerkbar. In seinen Handschuhen und direkt unter dem Haaransatz auf seiner Stirn bildeten sich Schweißtropfen. Heftiges Herzklopfen ließ ihn innehalten, weil er auf einmal das Gefühl hatte, die Luft enthielte nicht genug Sauerstoff. Er hyperventilierte ein paar Sekunden und zupfte an seinem Hals, um besser Luft zu bekommen. Sein Körper signalisierte ihm, dass da etwas war, wovor man Angst haben musste, während sein Verstand ihn vom Gegenteil zu überzeugen versuchte.
    Er stellte die üblichen leidenschaftslosen Beobachtungen an. Raúl Jiménez’ Füße waren nackt, die Knöchel an die Stuhlbeine gefesselt. Einige Möbelstücke standen quer zum übrigen Mobiliar und waren offenbar verrückt worden. Abdrücke in dem teuren Perserteppich markierten die Stelle, wo der Stuhl normalerweise gestanden hatte. Die Kabel von Fernseher und Videorekorder waren straff gespannt, weil der Wagen, auf dem sie standen, meterweit von seiner normalen Position weggerollt worden war. Auf dem Fußboden neben dem Schreibtisch lag ein Ball aus Stoff, der aussah wie ein Paar zusammengeknüllter Socken mit Spuren von Speichel und Blut. Die Doppelfenster waren geschlossen, die Vorhänge offen. Auf dem Schreibtisch stand ein großer Specksteinaschenbecher voller ausgedrückter Kippen und abgebrochener Filter, daneben eine Schachtel Celtas. Billige Zigaretten, die billigsten. Nur die billigsten für Raúl Jiménez, Besitzer von vier der beliebtesten Restaurants in Sevilla sowie zweier weiterer in Sanlúcar de Barrameda und Puerto Santa Maria an der Küste. Nur die billigsten für Raúl Jiménez mit seiner 90-Millionen-Peseten-Wohnung in Los Remedios mit Blick auf das Feria-Gelände und den Prominentenfotos an der Wand hinter dem mit Leder bespannten Schreibtisch. Raúl mit dem Torero El Cordobés. Raúl mit der TV-Moderatorin Ana Rosa Quintana. Raúl mit einem Schlachtermesser hinter einem jamón , bei dem es sich um einen erstklassigen Pata Negra handeln musste, denn Raúl stand zwischen António Banderas und Melanie Griffith, die völlig entsetzt auf den Huf starrte, der auf ihre rechte Brust zeigte.
    Der Schweiß versiegte nicht, sondern brach auch an anderen Stellen aus. Auf seiner Oberlippe, im Kreuz, in seinen Achselhöhlen, von wo er bis zu seinen Hüften hinuntersickerte. Er wollte sich
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