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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla
Autoren: Robert Wilson
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»Du musst hinsehen«, sagte die Stimme.
    Doch er konnte nicht hinsehen. Er war der eine Mensch, der es sich nicht anschauen konnte und es nie können würde, weil es Dinge in jenem Teil seines Gehirns auslöste, der bei einer Messung der Hirnströme im Schlaf hellrot aufleuchten würde, diejenige Region seiner labyrinthischen Hirnwindungen, die Laien als »wilde Fantasien« bezeichnen würden. Eine Gefahrenzone, die abgesperrt werden musste, verbarrikadiert mit allem, was gerade zur Hand war, vernagelt, mit Ketten und einem Vorhängeschloss gesichert, dessen Schlüssel im tiefsten See versenkt. Es war die Sackgasse, in der seine grobschlächtige, kräftige Bauerngestalt auf einen zitternden nackten Jungen reduziert wurde, der sein Gesicht im tröstenden Schutz einer dunklen, harten, schmalen Ecke verbarg, die Beine und Pobacken wund vom Sitzen im eigenen Urin.
    Er würde nicht hinsehen. Er konnte nicht.
    Der Ton aus dem Fernseher wechselte zu einem alten Film zurück. Er hörte die synchronisierten Stimmen. Ja, das würde er sich ansehen. Das konnte er sich ansehen: wie James Cagney Spanisch sprach, während seine Blicke hin und her zuckten und seine Lippen völlig andere Dinge zu sagen schienen.
    Der Videorekorder surrte, als das Band zum Anfang zurückgespult wurde. Der Horizont in seinem Kopf geriet in Bewegung. Übelkeit? Oder etwas Schlimmeres? Die sich auftürmende Flutwelle der Vergangenheit? Sein Hals war wie zugeschnürt, seine Lippen zitterten, sein innerer Taumel übertrug sich auf den manisch Spanisch sprechenden James Cagney. Er rollte seine nackten Zehen ein und packte die Lehnen des Stuhls. Seine Handgelenke waren bereits wund von den Fesseln. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und sein Blick verschwamm.
    »Tränen zur Schlafenszeit«, sagte die Stimme.
    Schlafenszeit? Sein Verstand spielte mit dem Gedanken. Er hustete gedämpft in die Socken, die man ihm in die Backen gestopft hatte. Bedeutete Schlafenszeit das Ende? Das Ende wäre jedenfalls besser als das. Schlafenszeit. Tiefer, dunkler, endloser Schlaf.
    »Ich fordere dich auf, es noch einmal zu versuchen … du sollst versuchen zu sehen. Aber dafür musst du hinschauen. Wenn man nicht hinschaut, kann man nichts sehen«, sagte die Stimme leise in sein Ohr. Das »PLAY«-Licht blinkte rot aus der Finsternis. Er schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen. James Cagneys spanische Stimme wurde von wildem Gekicher geschluckt, dem ausgelassenen Lachen eines kleinen Jungen. Das war doch Lachen , oder? Er rollte den Kopf von einer Schulter auf die andere, als ob ihn das taub machen könnte für das verwirrende Geräusch, das für Angst, nackte Todesangst zu halten er sich weigerte. Dann das nachfolgende Schluchzen, die Hilflosigkeit, die schreckliche Schwäche nach dem Kitzeln … oder nach der Folter? Das Schluchzen, das konzentrierte Keuchen. Das Auftauchen aus dem Schmerz.
    »Du schaust nicht hin«, sagte die Stimme wütend.
    Sein Stuhl schwankte, als er versuchte, sich von dem Bildschirm und dem durchdringenden Geräusch abzuwenden. Erneut ließ sich James Cagney in perfektem Stakkato-Spanisch vernehmen, begleitet vom schneller werdenden Surren der Kassette bis zu dem Klicken, mit der sie in der Ausgangsposition einrastete.
    »Ich habe es versucht«, sagte die Stimme. »Ich war geduldig und … nachsichtig.«
    Nachsichtig? Das ist nachsichtig? Mich mit Händen und Füßen an einen Stuhl zu fesseln, mir meine stinkenden Socken in den Mund zu stopfen, damit ich mir das … mein … das … ansehen muss?
    Kurzes Schweigen, gefolgt von einem gemurmelten Fluch. Papiertücher wurden aus der Schachtel auf dem Schreibtisch gerissen. Wieder erfüllte dieser Geruch das Zimmer. Er erinnerte sich daran. Der dunkle Fleck kam auf ihn zu, diesmal nicht auf einem Lumpen, sondern auf Papiertüchern. Der Geruch und seine Bedeutung. Dunkelheit. Geliebte Dunkelheit. Schenk sie mir. Ich ziehe sie jederzeit vor.
    Der harte Schlag des Chloroforms ließ ihn nach hinten ins Nichts taumeln.

    Ein Lichtpunkt so klein wie ein Stern durchlöcherte die hohe Kuppel, wuchs zu einem Kreis und riss ihn aus seinem dunklen Brunnen. Nein, ich bleibe hier. Lass mich in meinem finsteren Verlies. Doch er wurde unerbittlich in den breiter werdenden Kreis gezogen, bis er wieder in dem Wohnzimmer mit James Cagney aufwachte, der mittlerweile in Begleitung eines Mädchens war. Und das war nicht das Einzige, was sich verändert hatte. Ein Kabel schnitt in sein Gesicht. Es war unter
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