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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla
Autoren: Robert Wilson
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mein ehemaliges Atelier und bleibe vor dem Planschrank stehen, dessen unterste Schublade offen steht. Die sieben verbliebenen Zeichnungen von P. sind verschwunden.
    Völlig außer mir stürme ich durch das Haus zu ihrem Schlafzimmer, das abgeschlossen ist. Ich werfe mich mit der Schulter gegen die Tür, bis sie aufspringt. Das Zimmer ist leer. Ich nehme die Knochenskulptur und gehe direkt zurück in mein Atelier an der Bucht. Ich nehme zwei Hammer und gehe aufs Dach. Dort zertrümmere ich die Skulptur, in jeder Hand einen Hammer. Ich sammle die Bruchstücke auf und zermalme sie mit obsessiver Kraft in einem Mörser. Den Knochenstaub packe ich in eine Tüte und gehe zu einem billigen Touristen-Laden, wo ich eine schlichte Tonurne kaufe, in die ich den Staub fülle. Dann gehe ich nach Hause und stelle die Urne auf ihre Kommode.

    18. Januar 1961, Tanger
    Nichts wurde gesagt. Der schwarze Fleck im Patio ist verschwunden. Wo die Urne ist, weiß ich nicht. Ein paar Tage lang ist sie auf ihrer Kommode stehen geblieben, dann war sie verschwunden. Wir bewegen uns umeinander wie im Zentrum eines zusammenbrechenden Imperiums, als wären wir Kaiser und Kaiserin, die einander inmitten all des Niedergangs argwöhnisch beäugen. Obwohl wir es beide unerträglich finden, suchen wir unwillkürlich die Gesellschaft des anderen, weil wir im Blick behalten müssen, was der andere tut. Sie nimmt nur Essen und Getränke zu sich, die ihre Berbermagd zubereitet hat. Ich täusche Desinteresse vor und nehme meine Mahlzeiten im Restaurant des Grand Hôtel Villa de France ein. Es gibt eine Geschichte aus dem alten Rom, wo ein Mann und seine Frau in genau der gleichen Situation waren. Die Frau bemerkte, dass der Mann Feigen von einem Baum aß. Sie strich sie mit Gift an und sah zu, wie er starb. Feigen haben zur Zeit keine Saison.

    25. Januar 1961, Tanger
    Ich sitze im Atelier. Drei ganze Tage habe ich gebraucht, bis ich das kleine Päckchen gefunden habe, das jetzt vor mir liegt. Ich streiche das Papier glatt und betaste die beiden Glaskapseln mit Zyanid, die mir der Legionär geschenkt hat, den ich vor dem Gefängnis bewahrt habe. Ich schnuppere daran. Nichts. Aus irgendeiner Nische meines Verstandes steigt die Erinnerung auf, dass Zyanid nach Mandeln riecht.

    2. Februar 1961, Tanger
    P. geht immer früher zu Bett, und die Berberin ruft jetzt eins der Kinder, damit es ihr die Mandelmilch bringt. Paco und Manuela schicken jedes Mal Javier, der diese Pflicht offenbar mit Begeisterung erfüllt. Ich beobachte sie aus dem Patio. P. stellt die Milch auf ihren Nachttisch und küsst und umarmt Javier, bevor sie ihn ins Bett schickt. Dann trinkt sie ihre Milch und löscht das Licht.
    Ich frage mich, ob es das ist, was ich sein will, der Mörder meiner Gattin? Habe ich keine Moral? Die Frage kommt mir irrelevant vor. Der Druck kommt aus einer anderen Richtung. Die Nächte werden länger und länger, und meine Gedanken verbringen mehr und mehr Zeit im einsamen Dunkel. Ich liege in der Mitte meines Ateliers, das Moskitonetz über meinem Kopf hochgebunden, und ein Bild aus meinen frühen Tagen in Russland tritt mir vor Augen. Ich sehe Pablitos Verräterin durch mein Visier, ihre keuchende Brust. Ich ziele neu und schieße, als der Befehl kommt, direkt in ihren Mund. Ihr Kiefer zersplittert. Ich habe meine Antwort.

    5. Februar 1961, Tanger
    Ich sitze unter dem Feigenbaum im Patio, habe beide Kapseln bei mir und rolle sie auf meiner Handfläche hin und her. Ich bin nicht von Hass zerfressen, sondern von der Unvermeidlichkeit ergriffen. Wir sind am Kern der Sache angekommen. Es gibt keine Möglichkeit, den Ausgang zu verändern.
    Ich höre die Berberin rufen. Kurz darauf tappen Javiers nackte Füße über die Terrakottafliesen. Ich verstecke mich in einem Raum am Flur zu P.s Zimmer und höre Javiers raschelnden Pyjama näher kommen.

    Wieder wurde Sergios Stimme leiser, während die Worte unerbittlich auf sein Opfer einhieben. Javier blickt auf seine nackten Füße auf den Fliesen, das Glas Mandelmilch in Kinnhöhe. Er beißt sich konzentriert auf die Lippe, um ja keinen Tropfen zu verschütten, und ist ein wenig erschrocken, als in Schulterhöhe plötzlich sein Vater auftaucht. Sein Gesicht stößt so unmittelbar aus der Dunkelheit vor, dass Javier das Glas um ein Haar hätte fallen lassen; Gott sei Dank nimmt es ihm sein Vater jedoch aus der Hand.
    »Ich bin’s nur«, sagt er, reißt die Augen auf, hält eine Hand über das Glas, murmelt
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