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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla
Autoren: Robert Wilson
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dir bis zum Schluss anhören. Man hat dir die Gabe des Sehens geschenkt. Man hat dir einen besonderen Einblick gewährt. Du durftest das Wesen der Dinge erkennen, und du hast es behandelt wie eine Münze. Als ich zu dir zurückgekommen bin, warst du ja so erbärmlich. Du warst so dankbar. Deine Muse war zurückgekehrt. Und du hast darum gebeten, erneut zu sehen, aber weil du der Mann bist, der du bist, konntest du das Innere nicht erkennen. Du hast nur die Oberfläche gesehen. Und Oberflächen kann jeder malen. Die Medina wird jeden Tag weiß getüncht.
    Ich: Das lasse ich mir nicht bieten.
    P.: Dann kriegst du es ungebeten. Aber gestehe dir selbst ein, selbst wenn du es mir gegenüber nicht kannst, dass du Tariq Chefchaouni ermordet und sein Werk zerstört hast, weil …
    Ich: Halt die Klappe, Pilar.
    P.: … weil er, ein armer Araberjunge vom Rif, erfolgreich war, wo du gescheitert bist. Er ist irrsinnig wütend geworden, als er gesehen hat, dass sein Vater seine Knochenskulptur verkauft hat. Erst als er erfahren hat, dass ich sie habe, hat sich sein Zorn gelegt. Seine Arbeit stand nicht zum Verkauf. Es war etwas zwischen ihm und seinem Schöpfer. Das war sein Prinzip. Das war seine Moral. Man verkauft seine Vision nicht an den Meistbietenden.
    Ich erhebe mich auf zittrigen Beinen. All meine Kraft konzentriert sich in einer zentralen Wut. Ich bin wie ein Vulkan vor dem Ausbruch, muss mich mit beiden Händen auf dem Tisch abstützen, um mich zu beherrschen. Sie beugt sich noch weiter vor, sodass unsere Gesichter ganz nah beieinander sind und ich ihre scharfen, harten weißen Zähne blitzen sehe. Ihre Augen brüllen mich an, lodern in grünen Flammen.
    Ich: Und was hatte seine Skulptur dann in dem Ladenfenster zu suchen?
    P.: Keiner von uns ist ohne Eitelkeit, aber nur wenige werden vollkommen von ihr verzehrt.
    Ich schlage sie mit dem Handrücken ins Gesicht, ein furchtbarer Schlag, der sie quer durchs Zimmer schleudert, gegen die Wand prallen und zu Boden sinken lässt wie einen verwirrten Käfer. Sie kriecht ziellos zur Tür, wo sie sitzen bleibt und ihre Sinne sammelt. Die Knochen in meiner Hand knacken. Ich fühle mich vollkommen wild und mörderisch, doch etwas hält mich zurück. P. stemmt sich vom Boden hoch und stützt sich an der Wand ab, deren weiße Farbe abblättert. Sie blinzelt kopfschüttelnd, aber sie ist entschlossen.
    P: Eins will ich dem gierigen Ungeheuer in deinem Kopf noch zum Fraß vorwerfen – dass du den Vater meines letzten Kindes getötet hast, und das werde ich dir nie verzeihen.
    Sie verlässt das Zimmer. Mein wütendes Hirn hat Mühe, ihre komplexen Worte zu entschlüsseln, jedes scharf und verletzend, und zusammen legen sie sich um meine Brust wie gespannter Stacheldraht. Ich muss mich hinsetzen. Ein Schwall von Schmerzen erfasst mich. Mein Herz scheint sich zusammengezogen und verkrampft zu haben. Über den mich benommen zurücklassenden Schrei in meinem Kopf hinweg höre ich das sich entfernende Klackern ihrer Absätze auf dem mit Terrakotta gefliesten Flur. Eine Tür fällt zu. Ein Schloss rastet ein. Ich will sie zurückrufen, damit sie mich rettet. Aber ich bin allein, etwas Furchtbares wütet in mir, und ich bin nicht sicher, ob mein Brustkorb es fassen kann. Ich kneife die Augen zusammen und zucke in nie gekannter Agonie. Ich schluchze und ein laut widerhallender Rülpser steigt auf, der das Zimmer mit dem Gestank ranziger chorizo erfüllt. Ich fühle mich unmittelbar erleichtert. Der Tod zieht seiner Wege. Ich verlasse das Haus und schlafe in meinem Atelier. Am Morgen wache ich mit klarem Kopf auf und schreibe dies auf, als wäre es ein beunruhigender Traum gewesen. Ich glaube das, was sie über Javier gesagt hat, nicht. Ihr Trotz war ihre einzige Verteidigung gegen meine spontane Gewalt.

    13. Januar 1961, Tanger
    Am Nachmittag kehre ich zum Haus zurück. Als ich die Haustür öffne, rieche ich Brandgeruch oder, genauer gesagt, den kalten Qualm eines ausgebrannten Feuers. Auf dem Patio ist ein schwarzer Fleck, und der Wind hat die angekohlten Papierflocken zerstreut, die wie eine Insektenplage umhertreiben. Ich bewege mich durch diese Welt von Motten, schwarze Flocken kleben an meinem kühlen, verschwitzten Gesicht. Ich kann mir nicht vorstellen, warum jemand an dieser Stelle ein Feuer entzündet hat, bis ich einen Papierfetzen erkenne, dessen Ränder zu einem schwarzen Muster angekokelt sind. Als ich ihn umdrehe, erkenne ich die Überreste einer Kohlestiftlinie. Ich gehe in
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