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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla
Autoren: Robert Wilson
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publik werden.«
    »Das Projekt?«
    »Wie dein Vater geschrieben hat: ›Niemand malt mehr‹«, sagte Julio. »Auf Leinwänden herumzutupfen ist nicht so schrecklich weit entfernt von dem, was die Höhlenmenschen getan haben. Du weißt schon, Ceci n’est pas une pipe und der ganze Kram. In der Kunst geht es doch immer um Fortschritt, oder nicht? Wir dürfen nicht stillstehen. Wir müssen den Menschen ständig etwas Neues zeigen oder ihnen vorführen, dass man Altes neu sehen kann. Carl Andrés Equivalent VIH , Damien Hirsts eingelegte Haie und Kühe. Die echten plastinierten Leichen aus Günther von Hagens’ Körperwelten. Und jetzt Julio Menéndez.«
    »Und wie heißt dein Projekt?«
    »Selbst das ist neu. Der Titel entwickelt sich permanent weiter. Er besteht aus drei englischen Wörtern, die man unter freier Verwendung jeder Präposition beliebig aneinander reihen kann. Die Wörter lauten: Art. Real. Killing. Es könnte also die Real Art of Killing sein oder vielleicht auch Killing Real Art. «
    »Oder Art of Real Killing «, sagte Falcón.
    »Ich wusste, dass du es gleich kapieren würdest.«
    »Wann soll dieses Projekt denn gezeigt werden?«
    »Oh, das liegt eigentlich nicht in meiner Hand«, sagte Julio. »Natürlich wird es in allen Medien sein. Aber, nun ja, du hast bestimmt von Menschen gehört, die ihr Leben Dingen wie der Literatur geweiht haben. Dies ist gewissermaßen eine Erweiterung dieser Idee. Ich denke, es wird wahrscheinlich unvermeidlich posthum werden.«
    »Fang mit dem Anfang an«, bat ihn Falcón. »Ich bin so konventionell.«
    »Wie du weißt, war Tariq Chefchaouni mein Großvater, meine Mutter war seine einzige Tochter. Sein Künstlergen hat eine Generation übersprungen und ist auf mich übergegangen. Nach meinem ersten Jahr hier am Bellas Artes haben meine Mutter und ich die Familie in Tanger besucht. Ich habe darum gebeten, etwas vom Werk meines Großvaters sehen zu dürfen, doch man erklärte mir, bis auf ein paar Habseligkeiten und Bücher sei bei dem Brand, bei dem er auch selbst ums Leben gekommen ist, alles vernichtet worden. Ein paar Jahre später rief mich die Familie an und berichtete mir, dass man bei Bauarbeiten eine kleine Zinnschachtel unter dem Boden seines Hauses gefunden hatte.
    Ich habe damals hier in Sevilla Kunst studiert und wusste eine Menge über die Falcón-Akte, weil ich in meinem zweiten und dritten Jahr ein Projekt dazu gemacht habe. Im Grunde war ich schon besessen von ihnen, bevor ich nach Sevilla kam, und als ich herausfand, dass dein Vater noch hier lebte, habe ich ihn sogar ein paar Mal getroffen, um ein paar technische Fragen zu klären, die ich zu den Bildern hatte. Er kannte mich natürlich nur als Julio Menéndez. Er war sehr … zuvorkommend. Wir mochten uns. Er sagte, ich könne ihn jederzeit anrufen, wenn ich noch etwas wissen wollte. Also fuhr ich wieder nach Tanger, öffnete die Zinnschachtel und stellte völlig fasziniert fest, dass mein Großvater offenbar die gleiche Besessenheit gehabt hatte, nur … wie konnte er? Als die Akte entstanden, war er bereits tot.«
    Julio öffnete die Schachtel und nahm vier postkartengroße Leinwände heraus, die er Falcón hinhielt. Es waren perfekte Reproduktionen der Falcón-Akte.
    »Ohne Lupe und gutes Licht kann man sie im Grunde gar nicht richtig sehen, aber ich versichere dir, sie sind vollkommen … jeder Pinselstrich eine perfekte Miniatur des Originals. Und jetzt sieh dir die Rückseite an.«
    Javier betrachtete die Rückseite der Miniaturen. Jedes der Bilder war Pilar gewidmet, gefolgt von den Daten Mai 1955, Juni 1956, Januar 1958 und August 1959.

    »In der Schachtel war noch etwas, was sich nicht mehr in meinem Besitz befindet.«
    »Der silberne Ring mit dem Saphir«, sagte Falcón. »Der Ring meiner Mutter.«
    »Meine erste Reaktion auf die Miniaturen war der Gedanke, sie deinem Vater zu zeigen. Er musste sie verloren haben, und irgendwie waren sie in den Besitz meines Großvaters gelangt. Doch dann fiel mir wieder ein, dass die Falcón-Akte alle binnen eines Jahres entstanden sind, was nicht zu den Daten auf den Rückseiten passte. Ich war verwirrt.«
    »Wann war das?«
    »Ende 1998, Anfang 1999.«
    »Und wann kam dir zum ersten Mal der Gedanke, dass etwas anderes dahinter stecken könnte?«
    »Als ich in Tanger war, hatte dein Vater einen Herzinfarkt, und die Zeitung brachte einen Artikel mit einem alten Foto von ihm aus den 60er Jahren. Einer meiner älteren Verwandten sagte, dies wäre der Mann,
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