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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla
Autoren: Robert Wilson
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der nach dem Tod meines Großvaters zu ihnen gekommen war, um seine wenigen verbliebenen Zeichnungen aufzukaufen.
    Ich fuhr zurück nach Sevilla und hörte am Bellas Artes, dass er nach wie vor jeweils für ein paar Wochen Studenten bei sich aufnahm. Ich habe ihn angerufen. Er erinnerte sich an mich, und ich habe mich als sein Gesellschafter angeboten. Er war damals nach seinem Herzinfarkt noch sehr schwach, sodass ich freie Verfügung über das Atelier hatte. Die Kammer war abgeschlossen, aber das war kein Problem für mich. Und dort fand ich jede Bestätigung, die ich brauchte, zum einen durch die erstaunliche Mittelmäßigkeit seiner Versuche, das Werk meines Großvaters zu reproduzieren, und zum anderen in den Tagebüchern. Ich las sie alle, und als ich fertig war, stahl ich den entscheidenden Band und ging. Ich bin nie zurückgekehrt. Ich wollte das Tagebuch veröffentlichen, um der Welt den wahren Francisco Falcón zu präsentieren … aber dann ist er gestorben.«
    »Warum hast du es nicht sofort veröffentlicht?«
    »Ich habe befürchtet, dass man mir das ganze Ding wegnehmen würde«, erklärte Julio. »Ich wollte die Kontrolle behalten.«
    »Aber dann muss doch irgendetwas passiert sein.«
    »Warum?«
    »Damit es zu deinem Projekt kommen konnte.«
    »Nichts ist passiert«, sagte Julio. »Das ist das Wesen des künstlerischen Prozesses. Eines Tages beschloss ich, dass es interessant wäre, alles über Raúl Jiménez und Ramón Salgado zu erfahren. Wie sie heute leben. Also begann ich mit den Aufnahmen zu La Familia Jiménez , und von da aus entwickelte sich das Ganze.«
    »Und was war mit Marta?«
    »Es ist verblüffend, wie die Dinge einen finden, wenn man erst einmal an etwas zu arbeiten beginnt. Aus den Tagebüchern wusste ich, dass sie in Ciempozuelos ist. Ich wollte sie sehen, mehr über sie erfahren, doch das konnte ich nicht, ohne Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Damals habe ich als freier Mitarbeiter für eine Filmfirma in Madrid an Computer-Effekten gearbeitet, und einer der Regisseure hat mich gefragt, ob ich Interesse hätte, psychisch kranken Patienten aus Ciempozuelos mit einer Art Kunsttherapie zu helfen. Ich habe mich freiwillig gemeldet. Marta war natürlich keine der teilnehmenden Patientinnen, aber es war trotzdem nicht so schwierig, sie zu finden.«
    »Und deshalb hast du dich mit Ahmed angefreundet?«
    »Sobald ich die Metalltruhe unter ihrem Bett gesehen hatte, wusste ich, dass ich einen Blick hineinwerfen musste, und Ahmed war meine einzige Chance. Ich habe ein Talent für Freundschaft, vor allem mit Menschen wie Ahmed – forasteros , verstehst du … wie ich.«
    »Wie Eloisa.«
    »Ja«, sagte Julio glatt. »Ahmed hat mir Martas Krankenakte gezeigt, und nachdem ich den Brief von José Manuel Jiménez’ Psychoanalytiker gelesen hatte, wusste ich, dass ich ein Projekt hatte.«
    »Und woher kam die Idee, Menschen umzubringen?«
    »Von dir, als ich erfuhr, dass du Inspector Jefe del Grupo de Homicidios de Sevilla bist«, sagte Julio. »Den Sohn des großen Francisco Falcón die Verbrechen seines Vaters untersuchen zu lassen schien mir eine zu perfekte Gelegenheit, um sie sich entgehen zu lassen. Plötzlich ergab die ganze Idee einen Sinn.«
    »Das war keine rationale Entscheidung.«
    »Das künstlerische Bewusstsein funktioniert nicht rational. Wie soll ich andere aufrütteln, wenn mein Bewusstsein flach und glatt ist?«
    »Mord ist keine Kunst.«
    »Du hast das Wort ›real‹ vergessen«, sagte Julio, der aufgesprungen war. Seine Pupillen waren mit einem Mal riesige, schwarze glänzende Löcher, die alles aufzusaugen schienen. »Du hättest sagen müssen Real Killing is not Art oder … oder … Killing is not Real Art. «
    »Setz dich, Julio. Setz dich nur einen Moment lang hin … wir sind noch nicht fertig«, bat ihn Falcón.
    »Weißt du, das Problem ist, dass … dass ich die Dinge jetzt zu klar sehe. Ich bin offenbar unfähig, meinen visuellen Maßstab wieder herunterzufahren. Wenn man einen Menschen getötet hat, wird alles unglaublich real, und das ist unerträglich. Wusstest du das, Onkel, wusstest du das?«
    »Das ist richtig, ich bin dein Onkel«, sagte Falcón in dem Bemühen, Julio unter Kontrolle zu halten. »Und ja, das weiß ich.«
    »Deswegen habe ich dich nicht getötet. Ich habe nur versucht, dir etwas Gutes zu tun. Dich von deiner Blindheit zu erlösen.«
    »Ja, das verstehe ich jetzt, und ich bin dir dankbar. Ich muss nur noch eine Sache von dir wissen.«
    »Es
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