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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla
Autoren: Robert Wilson
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wurden.
    Um 23.30 Uhr fuhr Lobo ihn ins Krankenhaus. Lobo berichtete, dass er für Comisario Leóns Amtsniederlegung gesorgt hatte. Falcón antwortete nicht.
    »Wissen Sie«, sagte Lobo noch vor der Notaufnahme, »es wird ein großes Medieninteresse an diesem Fall geben, vor allem … wegen der ungewöhnlichen Verwicklung Ihres Vaters.«
    »Das war Julios Absicht«, erklärte ihm Falcón. »Er wollte die extremste und maximal schockierende Enthüllung, die man sich vorstellen kann … wie jeder Künstler. Das liegt jetzt nicht mehr in meiner Hand. Ich werde bloß …«
    »Nun, ich hoffe … ich denke, ich kann Ihnen helfen, das zu kontrollieren.«
    Falcón zog eine Augenbraue hoch.
    »Wir sollten die Geschichte nur einem einzigen Journalisten erzählen«, sagte Lobo. »So können Sie Ihre Version der Ereignisse darlegen, anstatt dass sie Ihnen aus der Hand gerissen und in eine reißerische Fantasie verwandelt wird.«
    »Davor habe ich keine Angst, Comisario, und zwar nur deshalb nicht, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass sich irgendein Redakteur etwas noch Sensationelleres ausdenken kann als die Tatsache, dass mein Vater ein brutaler Schläger, Pirat, Dieb, Hochstapler, doppelter Gattinnenmörder und Betrüger war.«
    »Auf diese Weise ist die erste Veröffentlichung der Geschichte zumindest so nah an der Wahrheit wie möglich. Ich halte es immer für das Beste, dass der erste Eindruck …«
    »Vielleicht haben Sie sich ja bereits mit einem Journalisten geeinigt, Comisario«, unterbrach ihn Falcón.
    Lobo schwieg und bot dann an, ihn in die Notaufnahme zu begleiten. Falcón lehnte ab.

    Er betrat die Ambulanz und saß im grellen Neonlicht seines neuen Lebens, während sein Augenlid mit einem Seidenfaden genäht wurde. Seine Sinne wichen vor den grellen OP-Strahlern zurück, und er versank mit geschlossenen Augen in seinen verworrenen Gedanken. Wie würden Paco und Manuela auf den Medienrummel reagieren? Was sollte er ihnen sagen? Euer Vater … der nicht meiner ist … war ein Ungeheuer? Manuela würde es abschütteln, wenn es nicht ohnehin an ihr abprallte. Sie würde es nicht an sich heranlassen. Aber Paco … Sein Vater hatte ihn nach seiner Verletzung in der Stierkampfarena gerettet, ihm die Finca geschenkt und ihm ein neues Leben aufgebaut. Paco würde das Ganze nicht so leicht von sich fern halten können. Doch bei aller Sorge war Falcón auch erleichtert, dass er immer noch die alte Nähe zu beiden spürte und dass sich für ihn nichts ändern würde.
    »Tut es weh?«, fragte der Arzt.
    »Nein«, sagte Javier.
    »Schwester«, sagte der Arzt, »tupfen Sie die Tränen ab.«
    Um Mitternacht war er entlassen und nahm, noch immer in seinem blutigen Hemd, ein Taxi nach Hause. Er stand eine Weile im Patio, ging dann nach oben ins Atelier, nahm alle Versuche seines Vaters, Chefchaounis Werk zu kopieren und die fünf Leinwände, die zusammen das obszöne Gemälde seiner Mutter ergaben, und warf sie in den Hof. Der Karton mit Geld und die Pornohefte folgten. Er schichtete alles zu einem Haufen neben dem Brunnen auf, übergoss ihn mit fünf Litern Spiritus aus einem Kanister und warf ein brennendes Streichholz darauf. Die Flammen loderten auf, und ein gelbliches Licht erhellte den stillen Innenhof.
    Dann ging er zurück ins Arbeitszimmer, wo noch immer die Zinnschachtel auf dem Tisch stand. Er nahm die unschätzbaren Miniaturen und breitete sie nebeneinander auf dem Tisch aus. Das Werk seines Vaters, seines richtigen Vaters. Und einen Augenblick lang war er wieder in der Luft und blickte in das Gesicht hinab, an das er sich nie hatte erinnern können und das er jetzt zum ersten Mal vor sich sah.

    Er duschte und zog sich ein frisches Hemd an. Er hatte keine Lust, ins Bett zu gehen oder zu Hause zu bleiben, sondern verspürte plötzlich das Bedürfnis, unter Menschen zu sein, seinethalben sogar unter Fremden … besonders unter Fremden. Er trat in die Nacht hinaus, wurde von den Lichtern entlang des dunklen, trägen Flusses angezogen und ging dann weiter über die Brücke zur Plaza de Cuba, von wo er sich mit dem Menschenstrom auf der Calle Asunción zum Feria-Gelände treiben ließ.
    Schließlich stand er vor dem Edificio Presidente, wo vor einer Ewigkeit alles begonnen hatte, und Consuelo Jiménez mit ihrem herausfordernden Blick fiel ihm ein. Er bewunderte ihre Stärke. Trotz des Drucks hatte sie nie geschwankt. Calderón hatte Recht, sie hatte sie alle zusammengehalten. Er erinnerte sich an ihren Vorschlag,
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