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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla
Autoren: Robert Wilson
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»Abrakadabra«.
    Und gibt ihm das Glas zurück.
    »Alles in Ordnung jetzt«, sagt er und küsst ihn auf den Kopf. »Geh und bring es ihr. Und lass es nicht fallen.«
    Javier hält das Glas fest umklammert, sein Vater klopft ihm auf die Schulter, und seine nackten Füße sind wieder auf den Terrakottafliesen unterwegs, jede Unebenheit und jede Fuge drückt sich in seine nackten Sohlen. Er erreicht die Tür, stellt das Glas auf den Boden und drückt mit beiden Händen auf die Klinke. Dann nimmt er das Glas wieder und geht hinein. Seine Mutter blickt von ihrem Buch auf. Er drückt mit dem Hintern gegen die Tür, bis sie zuschnappt, stellt das Glas auf den Nachttisch, klettert aufs Bett, und seine Mutter drückt ihn an ihren Busen, wo er in ihrem weichen Nachthemd versinkt. Er spürt ihre unberingte Hand, die seinen kleinen Bauch hält, ihren Atem und die kitzelnde Berührung ihrer Lippen auf seinem Kopf. Sie ist warm, und der Stoff riecht nach ihr, sie drückt seine Rippen gegen ihre und gibt ihm einen letzten festen Kuss auf die Stirn, der ihn für immer mit ihrer Liebe zeichnet.

    Als er in die dunkle Wirklichkeit der Schlafmaske zurückkehrte, erstarrte Falcón auf seinem Stuhl. Die Fesseln schnitten nach wie vor tief in sein Fleisch, seine Augenlider brannten, der Samt der Maske war von seinen Tränen durchweicht, während die Stimme hinter ihm die letzten Worte aus dem Tagebuch seines Vaters vorlas.

    Kurz darauf rennt Javier an mir vorbei zurück nach oben in sein Zimmer. Ich trete ans Fenster und spähe durch die Ritzen der Läden. P. setzt das Glas Milch an, bläst sanft darüber und trinkt den ersten Schluck, bevor sie es wieder abstellt. Als sie sich wieder umwendet, hat das Zyanid ihr System schon erreicht. Ich bin entsetzt, wie schnell es wirkt. Sie zuckt, greift sich an den Hals und sinkt nach hinten. Die Berberin löscht das Licht in den Kinderschlafzimmern und geht wenig später auf ihr Zimmer. Ich gehe zu P. nehme das Glas, spüle es in der Küche gründlich aus und gieße es aus einer Flasche Mandelmilch, die ich tagsüber im Atelier vorbereitet habe, halb voll, bevor ich es wieder an P.s Bett stelle. Ich gehe zurück ins Atelier und schreibe dies auf. Jetzt muss ich schlafen, denn morgen muss ich früh aufstehen.

    Sergio endete, und im Haus herrschte Stille. Falcóns Tränen hatten die Schlafmaske durchgeweicht und strömten mit dem Blut seines Augenlids vermischt über sein Gesicht. Hinter ihm bewegte sich etwas. Ein Lappen wurde ihm auf Mund und Nase gedrückt, und ein stechender chemischer Geruch, widerlich wie Ammoniak, schickte seinen Verstand in eine weitere lautlose Galaxie.

34
    Montag, 30. April 2001, Falcóns Haus,
    Calle Bailén, Sevilla

    Sein chloroformierter Verstand taumelte stumm durch den Raum. Die Rückkehr in die Realität geschah bruchstückhaft – hier ein paar Tonfetzen, dort ein paar Bildersplitter. Er hob den Kopf, das Zimmer schwankte. Lichtstreifen drangen in seine Augen, und plötzlich riss ihn die Angst, dass man ihm etwas Furchtbares angetan hatte, aus seinem Dämmerzustand.
    Er konnte sehen, und seine Augenlider ließen sich öffnen und schließen. Erleichterung durchströmte ihn. Die Schlafmaske war entfernt und die Fußfesseln waren gelöst worden, nur seine Handgelenke waren noch angebunden. Er schluchzte, wehrte sich gegen die Erinnerungen, die zerstörten Gewissheiten. Gab es überhaupt irgendeine Möglichkeit, sich je davon zu erholen?
    Dann hörte er ein Geräusch, Laufrollen auf Fliesen. Etwas huschte dicht an ihm vorbei, er spürte den Luftzug. Ein Mann – Sergio, oder war er jetzt Julio? – glitt auf seinem Schreibtischstuhl an ihm vorbei zur gegenüberliegenden Wand.
    »Wach?«, fragte er, stieß sich wieder von der Wand ab und rollte quälend langsam auf einen Punkt dicht vor Javier zu.
    Julio Menéndez Chefchaouni lehnte entspannt in seinem Stuhl. Falcóns erster Eindruck war der von Schönheit. Er sah beinahe feminin aus, mit langen dunklen Haaren, sanften braunen Augen, langen Wimpern, hohen Wangenknochen und glatter Haut. Ein Gesicht, das die Kamera lieben würde.
    »Hier ist es, Inspector Jefe«, sagte er und rahmte sein Kinn mit den Händen. »Das Antlitz des reinen Bösen.«
    »Noch immer nicht fertig?«, fragte Falcón. »Was kann denn noch kommen, Julio?«
    »Ich glaube, das Projekt braucht … nicht direkt ein Ende, weil ich nicht an Enden glaube – genauso wenig übrigens wie an Anfänge oder Mitten –, aber es ist notwendig, dass seine Motive
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