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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman
Autoren: Sarah Waters
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verschwand, unsicher, was dort auf sie wartete. Dann sah ich ihr Gesicht – sah es ebenso lebendig und klar wie die Gesichter, die mich umgaben. In ihrer Miene sah ich Wiedererkennen, Verstehen und Entsetzen. Und einen Moment lang war es mir, als würde ich auf der silbrig spiegelnden Oberfläche ihres mondhellen Auges sogar die Umrisse eines schattenhaften furchtbaren Etwas sehen.
    Ich klammerte mich an dem Holzgeländer vor mir fest und hörte, wie Riddell mich ansprach. Der Gerichtsdiener brachte eilig noch ein Glas Wasser; aus dem Saal tönte Gemurmel. Doch das schwindlige Gefühl war schon vergangen; das alptraumhafte Fragment wieder ins Dunkel verschwunden. Und was spielte es überhaupt noch für eine Rolle? Alles war jetzt zu Ende, aus und vorbei. Ich wischte mir über das Gesicht und richtete mich wieder auf, dann wandte ich mich an Riddell und erklärte mit tonloser Stimme, dass ich ihm zustimmen würde. Ich würde glauben, dass Carolines Geist sich in den letzten Wochen ihres Lebens umwölkt habe und dass ihr Tod ein Suizid sei.
    Er dankte mir und entließ mich aus dem Zeugenstand; dann fasste er den Fall noch einmal zusammen. Die Geschworenen zogen sich zurück, doch mit einer derart deutlichen Empfehlung gab es für sie nur wenig zu diskutieren; sie kehrten bald mit dem erwarteten Verdikt zurück, und nach den üblichen Formalitäten wurde die gerichtliche Untersuchung geschlossen. Die Leute erhoben sich, Stühle scharrten über den Boden. Die Stimmen wurden lauter. Ich sagte zu Graham: »Um Himmels willen, lass uns bloß schnell von hier verschwinden.«
    Er schob mir die Hand unter den Ellenbogen und führte mich aus dem Saal.
     
    Ich schaute mir keine der Zeitungen an, die im Laufe der Woche erschienen, doch wie ich gehört habe, griffen sie begeistert Bettys Bericht auf, dass es auf Hundreds spuken solle.
    Ich hörte auch, dass ein paar makaber veranlagte Menschen sogar Kontakt zum Makler aufnahmen und sich als Kaufinteressenten präsentierten, um sich einen kleinen Rundgang durch das Herrenhaus zu erschleichen. Wenn ich auf der Straße unterwegs war, die an Hundreds vorbeiführte, sah ich gelegentlich, wie Autos oder Fahrräder vor den Parktoren anhielten und Leute durch die schmiedeeisernen Stäbe spähten, so als sei das Haus zu einer Attraktion für Ausflügler geworden. Carolines Beerdigung zog ebenfalls etliche Schaulustige an, obwohl ihr Onkel und ihre Tante die Feier so still und bescheiden wie möglich organisiert hatten, ohne Glockengeläut, Blumendekorationen oder anschließenden Leichenschmaus. Die Zahl der tatsächlich Trauernden war dagegen klein. Ich hielt mich weit hinten auf. Ich hatte den ungetragenen Ehering mitgebracht, hielt ihn in der Hosentasche versteckt und drehte ihn unablässig in den Fingern, während der Sarg abgesenkt wurde.

15
     
     
     
     
     
     
    D as ist jetzt gut drei Jahre her. Ich habe seitdem stets viel zu tun gehabt. Nach der Einführung des staatlichen Gesund heitswesens verlor ich keineswegs Patienten, wie ich zunächst befürchtet hatte, sondern gewann im Gegenteil neue hinzu. Wahrscheinlich hatte meine Verbindung zu den Ayres dies sogar begünstigt, denn genau wie jene illegalen Siedler aus Oxfordshire hatten auch viele andere Leute meinen Namen in der Zeitung gelesen und schienen mich als eine Art aufstrebendes Talent zu betrachten. Heute höre ich oft, wie beliebt ich sei und dass meine bodenständige, volksnahe Art bei den Leuten gut ankommt. Ich arbeite immer noch in Dr. Gills alter Praxis auf der High Street von Lidcote; die Wohnung ist für einen Junggesellen nach wie vor bequem. Doch der Ort wächst rasch; viele junge Familien ziehen her, und Sprechzimmer und Arzneiausgabe wirken inzwischen ziemlich veraltet. Graham, Seeley und ich überlegen daher schon, eine große Gemeinschaftspraxis in einem brandneuen Ärztehaus zu eröffnen; Maurice Babb soll die Bauleitung übernehmen.
    Rodericks Gesundheitszustand hat sich leider nicht verbessert. Ich hatte eigentlich gehofft, dass der Tod seiner Schwester ihn endlich von seinen Wahnvorstellungen befreien würde, denn was hätte er nach diesem letzten schrecklichen Ereignis noch von Hundreds befürchten sollen? Doch Carolines Tod bewirkte, wenn überhaupt, das Gegenteil. Er gibt sich selbst die Schuld an den tragischen Vorfällen und scheint entschlossen, sich dafür zu bestrafen. Mittlerweile hat er sich schon so oft selbst verbrannt, verletzt oder auf andere Weise körperlichen Schaden zugefügt, dass
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