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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman
Autoren: Sarah Waters
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Krankheit bestürzt?«
    »Natürlich war sie das.«
    »Unverhältnismäßig bestürzt?«
    Ich überlegte. »Nein, das würde ich nicht sagen.«
    »Hat sie Ihnen irgendwelche Tickets oder Reservierungen gezeigt, die auf die Reise nach Amerika oder Kanada hindeuteten?«
    »Nein.«
    »Aber Sie denken, dass es ihr mit ihrem Vorhaben ernst war?«
    »Nun, soweit ich das beurteilen kann, ja. Sie war der Ansicht, dass England sie nicht wollte. Dass es hier inzwischen keinen Platz mehr für sie gäbe.«
    An dieser Stelle nickten einige der Zuschauer aus dem Landadel grimmig. Riddell selbst blickte nachdenklich drein, schwieg einen Moment und notierte etwas in seinen Papieren. Dann wandte er sich an die Geschworenen.
    »Ich bin sehr interessiert an diesen Plänen, die Miss Ayres hatte«, sagte er zu ihnen. »Ich frage mich, wie ernst wir sie nehmen können. Einerseits haben wir gehört, dass sie vorhatte, ein neues, aufregendes Leben anzufangen, und sich darauf freute. Andererseits kommen Ihnen diese Pläne vielleicht ziemlich ›unrealistisch‹ vor, so wie Dr. Faraday und auch mir, wie ich gestehen muss. Es gibt keinerlei Indizien, die zeigen, dass sie diese Pläne auch wirklich verfolgte; alles deutet eher darauf hin, dass Miss Ayres vielmehr damit beschäftigt war, ein Leben zu beenden , als ein neues zu beginnen. Kürzlich erst hatte sie die geplante Hochzeit abgesagt; sie hat sich von den Besitztümern ihrer Familie getrennt und war darum bemüht, ihr leeres Haus in einem ordentlichen Zustand zu übergeben. All das könnte auf einen Suizid hindeuten – sorgfältig geplant und durchdacht.«
    Er wandte sich wieder an mich.
    »Dr. Faraday, ist Ihnen Miss Ayres je als der Typ Mensch erschienen, der zu einer Selbsttötung fähig wäre?«
    Nach einem Moment Bedenkzeit erwiderte ich, ich ginge davon aus, dass jeder Mensch unter bestimmten Umständen zu einer Selbsttötung fähig sei.
    »Hat sie Ihnen gegenüber je von einem Freitod gesprochen?«
    »Nein.«
    »Miss Ayres’ Mutter hatte sich erst vor kurzem und auf sehr tragische Weise das Leben genommen. Das muss sich doch auf sie ausgewirkt haben.«
    »Natürlich hat es sich auf sie ausgewirkt«, erwiderte ich, »so wie man es auch erwarten würde. Es hat sie tief erschüttert.«
    »Würden Sie sagen, dass der Tod ihrer Mutter sie am Leben hat verzweifeln lassen?«
    »Nein, ich … Nein, das würde ich nicht sagen.«
    Er neigte den Kopf. »Würden Sie sagen, dass es ihr psychisches Gleichgewicht durcheinandergebracht hat?«
    Ich zögerte. »Das psychische Gleichgewicht eines Menschen«, sagte ich schließlich, »lässt sich manchmal nur äußerst schwer einschätzen.«
    »Das glaube ich gern. Deshalb bin ich ja auch so bemüht, herauszufinden, wie es um Miss Ayres’ psychisches Gleichgewicht stand. Sind Ihnen je Zweifel an ihrem psychischen Zustand gekommen? Egal welche? Dieser ›Sinneswandel‹ zum Beispiel, was die Hochzeit betraf? War das typisch für sie?«
    Nach einem neuerlichen Zögern räumte ich ein, dass Caroline mir in den letzten Wochen ihres Lebens tatsächlich unberechenbar erschienen war.
    »Was meinen Sie mit ›unberechenbar‹?«, fragte er.
    Ich sagte: »Sie war distanziert, nicht sie selbst. Sie hatte … merkwürdige Ideen.«
    »Merkwürdige Ideen?«
    »Ja, ihre Familie und ihr Haus betreffend«, erwiderte ich mit leiser Stimme.
    Er blickte mich genauso eindringlich an, wie er zuvor Betty angeschaut hatte, und fragte: »Hat Miss Ayres Ihnen gegenüber je von Geistern, Gespenstern oder Ähnlichem gesprochen?«
    Ich schwieg.
    Er fuhr fort. »Wir alle haben gerade vom Dienstmädchen der Familie eine sehr ungewöhnliche Beschreibung des Lebens auf Hundreds gehört; deshalb frage ich Sie. Sie werden sicher verstehen, dass dies ein maßgeblicher Punkt ist. Hat Miss Ayres Ihnen gegenüber zu irgendeinem Zeitpunkt Geister oder Gespenster erwähnt?«
    Endlich sagte ich: »Ja, das hat sie.«
    Ein Raunen ging durch den Saal. Diesmal sah Riddell darüber hinweg. Er heftete den Blick auf mich und sagte: »Hat Miss Ayres ernsthaft geglaubt, dass es in ihrem Haus spuken würde?«
    Widerstrebend antwortete ich, dass Caroline geglaubt habe, Hundreds Hall würde von einer Art übernatürlichem Einfluss heimgesucht. »Ich denke nicht, dass sie tatsächlich an ein Gespenst im eigentlichen Sinne geglaubt hat.«
    »Aber sie glaubte, dass sie Hinweise auf diesen … übernatürlichen Einfluss gefunden hätte?«
    »Ja.«
    »In welcher Form traten diese Hinweise auf?«
    Ich
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