Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman
Autoren: Sarah Waters
Vom Netzwerk:
waren. Miss Ayres wollte das Haus am einunddreißigsten verlassen, für den gleichen Tag hatte Betty auch die Rückkehr zu ihren Eltern arrangiert. Die letzten Tage auf Hundreds verbrachten sie damit, noch alle nötigen Dinge zu erledigen, ehe das Haus an den Makler übergeben werden konnte. An jenem Tag hatten sie die leer geräumten Zimmer ausgefegt und gewischt und waren sehr erschöpft. Miss Ayres schien jedoch keineswegs in gedrückter Stimmung zu sein, auch nicht niedergeschlagen. Sie hatte ebenso hart gearbeitet wie Betty, wenn nicht sogar härter. Es war Betty so vorgekommen, als freue sie sich auf den Umzug, obwohl sie kaum über ihre Pläne gesprochen hatte. Sie hatte mehrmals gesagt, sie wolle den neuen Bewohnern »das Haus in sauberem, ordentlichem Zustand« übergeben.
    Betty war um zehn Uhr zu Bett gegangen. Etwa eine halbe Stunde später hatte sie gehört, wie auch Miss Ayres in ihr Zimmer gegangen sei. Sie habe das ganz deutlich gehört, da Miss Ayres’ Zimmer gleich um die Ecke von ihrem eigenen lag. Ja, das sei im ersten Stock. Es gäbe noch eine weitere Empore im zweiten Stock, und von beiden könne man in die Eingangshalle hinunterblicken, und beide würden von dem Licht erhellt, das durch die Glaskuppel im Dach fiel.
    Gegen halb drei sei sie von Schritten draußen im Treppenhaus erwacht. Zuerst habe sie sich gefürchtet. Wieso das?, fragte Riddell sie. Sie wisse es auch nicht so recht. Vielleicht, weil das große, einsame Haus einen nachts in Angst versetzen würde? Ja, vermutlich deswegen, erwiderte sie. Die Angst sei jedoch gleich wieder verschwunden. Ihr sei klar geworden, dass es Miss Ayres’ Schritte waren. Sie dachte sich, dass diese aufgestanden sei, vielleicht um zur Toilette zu gehen oder sich unten in der Küche ein warmes Getränk zu bereiten. Dann habe sie weiteres Knarren gehört und erstaunt festgestellt, dass Miss Ayres keineswegs nach unten ging, sondern vielmehr nach oben, in den zweiten Stock des Hauses. Warum, glaubte sie, hatte Miss Ayres das wohl getan? Das konnte sie auch nicht sagen. War dort oben irgendetwas außer leer stehenden Zimmern? Nein, nichts. Sie habe gehört, wie Miss Ayres ganz langsam über den oberen Korridor ging, als ob sie sich ihren Weg durch die Dunkelheit tastete. Dann habe sie gehört, wie ihre Schritte innehielten und sie ein Geräusch von sich gab.
    Miss Ayres hatte ein Geräusch von sich gegeben? Was für ein Geräusch?
    Sie hatte etwas gerufen.
    Ja, und was hatte sie gerufen?
    Sie hatte gerufen: »Du!«
    Ich hörte das Wort und blickte auf. Ich sah, wie Riddell zögerte. Er starrte Betty eindringlich durch seine Brillengläser an und fragte: »Du hast gehört, wie Miss Ayres ein einziges Wort gerufen hat, und das war ›du‹?«
    Betty nickte unglücklich. »Ja, Sir.«
    »Bist du dir da auch ganz sicher? Sie hat nicht vielleicht einfach nur aufgeschrien oder gestöhnt?«
    »Nein, Sir, ich hab es ganz deutlich verstanden.«
    »Tatsächlich? Und wie genau hat sie es gerufen?«
    »Sie rief es so, als hätte sie jemanden gesehen, den sie kannte, vor dem sie aber Angst hatte, Sir. Todesangst. Und danach hörte ich sie rennen. Sie rannte in Richtung Treppenhaus zurück. Ich bin aufgestanden und zur Tür gegangen und hab sie schnell aufgerissen. Und da hab ich sie runterfallen sehen.«
    »Du hast den Sturz deutlich sehen können?«
    »Ja, Sir, weil das Mondlicht so hell war.«
    »Und hat Miss Ayres irgendein Geräusch gemacht, während sie stürzte? Ich weiß, dass es schwer für dich ist, dir das wieder ins Gedächtnis zu rufen. Aber schien sie zu kämpfen? Oder fiel sie ganz gerade herunter, mit herabhängenden Armen?«
    »Sie gab keinen Ton von sich; nur ihr Atem raste irgendwie. Und nein, sie fiel nicht gerade herunter. Sie ruderte mit Armen und Beinen. Sie zappelte … so, wie wenn man eine Katze hochnimmt und sie wieder runtergesetzt werden will.«
    Bei den letzten Worten hatte ihre Stimme zu zittern begonnen und versagte jetzt ganz. Riddell bat einen Gerichtsdiener, ihr ein Glas Wasser einzuschenken, und lobte sie für ihre Tapferkeit. Doch ich hörte das alles mehr, als dass ich es sah, denn inzwischen saß ich wieder vornübergebeugt da und hielt mir die Hand vor die Augen. Nicht nur für Betty war die Erinnerung schrecklich, auch für mich war sie kaum zu ertragen. Ich spürte, wie Graham mich an der Schulter berührte.
    »Alles klar?«, flüsterte er.
    Ich nickte.
    »Bestimmt? Du siehst furchtbar aus!«
    Ich richtete mich auf. »Alles in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher