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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman
Autoren: Sarah Waters
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wieso; und dann weint Mrs. Ayres … Die arme Mrs. Ayres. Sie war eine so nette Dame. Auch Miss Caroline war nett. Das war einfach nich gerecht, was ihnen passiert is, oder?«
    Ich stimmte ihr zu. Wir standen einen Augenblick lang traurig da, ohne weitere Worte zu finden. Mir kam der Gedanke, wie wenig bemerkenswert wir beide wohl jedem Betrachter erscheinen mussten, und dabei waren sie und ich doch die einzigen Überlebenden aus den Trümmern jenes schrecklichen Jahres.
    Dann kam ihr junger Mann zu uns zurückgeschlendert, und sie gewann ihr kesses Auftreten wieder. Sie reichte mir die Hand zum Abschied, hakte sich bei ihm ein, und gemeinsam machten sich beide auf den Weg zur Bushaltestelle. Als ich zwanzig Minuten später wieder zu meinem Auto zurückkehrte, sah ich die beiden immer noch dort auf der Bank herumalbern: Er hatte sie auf seinen Schoß gezogen, sie strampelte und lachte vergnügt.
     
    Hundreds Hall steht nach wie vor zum Verkauf. Offenbar gibt es niemanden, der das Geld oder die Neigung hat, es zu übernehmen. Eine Zeit lang hieß es, der Grafschaftsrat wolle ein Lehrerausbildungszentrum daraus machen. Dann hatte anscheinend ein Geschäftsmann aus Birmingham vor, das Herrenhaus in ein Hotel umzuwandeln. Doch den Gerüchten folgten keine Taten, und in letzter Zeit sind selbst die Gerüchte immer seltener geworden. Wahrscheinlich schreckt die äußere Erscheinung des Anwesens die Leute ab: Die Gartenanlagen sind natürlich inzwischen hoffnungslos zugewuchert, auf der Terrasse wächst Unkraut, Kinder haben die Wände mit Kreide beschmiert und Steine durch die Fensterscheiben geworfen, und inmitten der Verwahrlosung hockt das Haus wie eine verwundete, todgeweihte Kreatur.
    Wann immer meine Zeit es mir erlaubt, fahre ich hinaus nach Hundreds. Die Schlösser sind nicht ausgetauscht worden, und ich besitze noch immer meine Schlüssel. Gelegentlich muss ich feststellen, dass in meiner Abwesenheit jemand auf dem Grundstück gewesen ist – irgendein Landstreicher oder Obdachloser, der versucht hat, die Tür aufzubrechen. Doch die Türen von Hundreds Hall sind stabil, und im Großen und Ganzen hält der Ruf des Hauses Eindringlinge ab. Außerdem gibt es nichts mehr, was sich zu stehlen lohnte, denn alles, was Caroline in den Wochen vor ihrem Tod nicht mehr verkaufen konnte, haben ihr Onkel und ihre Tante längst veräußert.
    Die Fensterläden im Erdgeschoss halte ich für gewöhnlich verschlossen. Der zweite Stock bereitet mir seit einiger Zeit ein wenig Sorge: Auf dem Dach sind Undichtigkeiten aufgetreten, dort, wo Schindeln im Sturm herabgefallen sind; eine Schwalbenfamilie ist in das ehemalige Spielzimmer eingedrungen und hat dort ihr Nest gebaut. Ich habe Eimer aufgestellt, um das Regenwasser aufzufangen, und die kaputten Scheiben, so gut es geht, zugenagelt. Von Zeit zu Zeit mache ich einen Rundgang durchs ganze Haus und kehre Staub und Mäusedreck zusammen. Die Decke des Saales hält immer noch stand, obwohl es nur noch eine Frage der Zeit ist, wann der vollgesogene Putz herabfällt. Carolines Schlafzimmer bleicht nach wie vor dahin. In Rodericks Zimmer kann man selbst heute noch schwachen Brandgeruch wahrnehmen … Trotz alledem hat das Haus sich seine Schönheit bewahrt. In mancher Hinsicht ist es sogar schöner als je zuvor, denn ohne Teppiche und Möbel, ohne das willkürliche Durcheinander seiner Bewohner kann man die klaren Linien und die streng symmetrische Gliederung viel besser wahrnehmen, die herrlichen Wechsel zwischen Licht und Schatten, die wohlüberlegte, harmonische Folge der Räume. Wenn ich auf leisen Sohlen durch die dämmerigen Zimmer wandere, scheint es mir sogar, als könne ich das Haus genauso sehen wie wohl einst sein Architekt, als es gerade neu erbaut war, als die Stuckdekorationen noch frisch und unbeschädigt waren und die Oberflächen makellos. In solchen Momenten gibt es keinerlei Spuren der Ayres. Es ist, als habe das Haus die Familie einfach abgestreift wie ein federnder Rasen, dessen Halme sich wieder aufrichten und alle Fußspuren verschwinden lassen.
    Auch heute verstehe ich nicht besser als vor drei Jahren, was im Herrenhaus geschehen ist. Ein paarmal noch habe ich mich mit Seeley darüber unterhalten. Er ist schließlich zu seiner ursprünglichen, rationalen Ansicht zurückgekehrt, dass Hundreds faktisch von der Geschichte bezwungen wurde, dass das Haus und seine Bewohner ihrer eigenen Unfähigkeit erlegen sind, mit einer sich rasch verändernden Welt Schritt zu
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