Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman
Autoren: Sarah Waters
Vom Netzwerk:
Ordnung.«
    Widerstrebend zog er seine Hand zurück.
    Betty hatte sich inzwischen auch wieder gefangen. Riddell war mit seiner Befragung ohnehin fast am Ende. Es täte ihm leid, dass er ihre Zeit noch einen Moment in Anspruch nehmen müsse, sagte er, aber es gäbe noch eine letzte Frage zu klären. Sie habe gerade gesagt, dass Miss Ayres kurz vor ihrem Sturz voller Angst etwas ausgerufen habe, als sei es an jemanden gerichtet, den sie kannte, und dann sei sie gerannt. Hatte Betty da vielleicht noch andere Schritte gehört, oder eine Stimme – irgendein anderes Geräusch –, entweder bevor Miss Ayres fiel oder danach?
    »Nein, Sir«, erwiderte Betty.
    »Da war ganz sicher keine weitere Person im Haus, außer dir und Miss Ayres?«
    Betty schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Das heißt …«
    Sie zögerte, und Riddell schaute sie eindringlich an. Wie ich schon sagte, war er äußerst gewissenhaft. Gerade eben noch hatte er sie aus dem Zeugenstand entlassen wollen, doch nun fragte er: »Was ist? Möchtest du noch etwas sagen?«
    Sie erwiderte. »Weiß nich, Sir. Eigentlich möcht ich’s nich.«
    »Du möchtest es nicht sagen? Wie meinst du das? Genier dich nicht, du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind nur hier, um die Fakten zu klären. Du musst die Wahrheit sagen, so wie du sie empfindest. Nun, worum geht es also?«
    Sie kaute auf der Innenseite ihres Mundes herum und sagte dann: »Da war kein Mensch im Haus, Sir. Aber ich glaube, da war irgendwas anderes. Irgendwas, das nich wollte, dass Miss Caroline geht und es alleinlässt.«
    Riddell blickte sie verwirrt an. »Etwas anderes?«
    »Bitte, Sir«, sagte sie. »Der Geist.«
    Sie sprach ziemlich leise, doch im Saal war es so still, dass ihre Äußerung klar vernehmlich war und einen großen Eindruck auf die Anwesenden machte. Gemurmel erhob sich, jemand lachte sogar. Riddell warf wütende Blicke in den Saal, dann fragte er Betty, was um alles in der Welt sie damit meine. Und zu meinem Entsetzen fing sie ganz ernsthaft an, es ihm darzulegen.
    Sie erzählte ihm, dass das Haus, wie sie es bezeichnete, »nich geheuer« sei. Sie sagte, »ein Geist« lebe dort, und dieser Geist sei es gewesen, der Gyp dazu gebracht habe, Gillian Baker-Hyde zu beißen. Sie sagte, dass der Geist dann Feuer gelegt habe, und diese Feuer hätten Mr. Roderick in den Wahnsinn getrieben, und danach habe der Geist »zu Mrs. Ayres gesprochen« und schreckliche Dinge gesagt, die sie dazu getrieben hätten, sich umzubringen. Und jetzt habe der Geist auch noch Miss Caroline umgebracht, indem er sie in den zweiten Stock gelockt und heruntergestoßen habe oder so erschreckt habe, dass sie gefallen sei. Der Geist habe sie »nich im Haus gewollt«, aber er habe auch »nich gewollt, dass sie geht«. Es sei ein »böser Geist«, und er wolle das Haus »für sich allein«.
    Da sie auf Hundreds wiederholt kein Publikum gefunden hatte, war sie nun vermutlich in ihrer Naivität wild entschlossen, das Beste aus der Situation herauszuholen und sich wenigstens jetzt einer Zuhörerschaft zu präsentieren. Als sich erneut Gemurmel unter den Zuschauern erhob, redete sie lauter, und ihre Stimme nahm einen trotzigen Klang an. Ich blickte mich im Saal um und sah etliche Leute, die ganz unverhohlen grinsten; die meisten allerdings starrten Betty mit ungläubiger Faszination an. Carolines Onkel und Tante wirkten empört. Die Zeitungsreporter dagegen schrieben natürlich eifrig mit.
    Graham beugte sich stirnrunzelnd zu mir herüber. »Hast du davon gewusst?«
    Ich antwortete ihm nicht. Betty war fertig mit ihrer grotesken kleinen Geschichte, und Riddell bat um Ruhe.
    »Nun«, sagte er zu Betty, nachdem wieder Stille eingekehrt war. »Du hast uns da eine sehr ungewöhnliche Geschichte erzählt. Da ich kein Experte in Geisterjagd und solchen Dingen bin, fühle ich mich auch kaum befähigt, das zu kommentieren.«
    Betty wurde rot. »Es stimmt aber, Sir! Ich lüge nicht!«
    »Ja, schon gut. Lass mich dir nur die eine Frage stellen: Hat Miss Ayres ebenfalls an diesen ›Geist‹ von Hundreds geglaubt? Hat sie geglaubt, dass er all die schrecklichen Dinge getan hat, die du erwähnt hast?«
    »Oh ja, Sir. Mehr als wir andern sogar.«
    Riddell machte ein ernstes Gesicht. »Danke. Wir sind dir sehr dankbar. Ich glaube, du hast viel dazu beigetragen, uns Miss Ayres’ Gemütsverfassung zu erhellen.«
    Er gab ihr ein Zeichen, dass sie wieder gehen könne. Sie zögerte, verwirrt durch seine Äußerung und seine Geste. Er entließ sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher