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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman
Autoren: Sarah Waters
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holte Luft. »Sie glaubte, dass ihr Bruder durch diesen Einfluss faktisch in den Wahnsinn getrieben worden sei. Sie glaubte, dass auch ihre Mutter davon betroffen wurde.«
    »Sie glaubte, ebenso wie das Dienstmädchen der Familie, dass dieser Einfluss den Selbstmord ihrer Mutter verursacht habe?«
    »Im Großen und Ganzen, ja.«
    »Haben Sie sie in diesem Glauben bestärkt?«
    »Selbstverständlich nicht. Ich habe es missbilligt. Ich fand die Idee krankhaft und habe mein Bestes versucht, sie davon abzubringen.«
    »Aber sie glaubte es weiterhin?«
    »Ja.«
    »Wie erklären Sie sich das?«
    »Das kann ich mir nicht erklären«, erwiderte ich unglücklich. »Ich wünschte, ich könnte es.«
    »Sie glauben nicht, dass es ein Hinweis auf einen getrübten Geist war?«
    »Ich weiß es nicht. Caroline selbst hat einmal von einer … einer familiären Veranlagung gesprochen. Sie hatte Angst, so viel weiß ich. Aber Sie müssen verstehen, dass in diesem Haus wirklich Dinge passiert sind … Ich weiß auch nicht …«
    Riddell sah besorgt aus, nahm seine Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. Und als er sich die Drahtbügel wieder hinter die Ohren streifte, sagte er: »Ich muss Ihnen eines sagen, Faraday: Ich habe Miss Ayres mehr als einmal getroffen; viele hier in diesem Saal kannten sie viel besser als ich. Und ich glaube, dass wir alle darin übereinstimmen würden, dass sie eine äußerst besonnene, vernünftige junge Frau war. Dass das Dienstmädchen der Ayres sich irgendwelchen übernatürlichen Phantasiegeschichten hingegeben hat, ist eine Sache. Aber bevor eine intelligente, gebildete junge Frau wie Caroline Ayres an Spukgeschichten glaubt – nun, da muss doch sicherlich eine ernsthafte Verwirrung des Geistes eingetreten sein. Wir haben hier einen sehr traurigen Fall vor uns, und mir ist klar, dass es Ihnen schwerfallen muss zuzugeben, dass jemand, für den Sie einmal viel empfunden haben, in einer labilen psychischen Verfassung war. Aber es scheint mir ziemlich deutlich zu sein, dass wir es hier mit einem Fall von ererbtem Wahnsinn zu tun haben – einer ›familiären Veranlagung‹ in Miss Ayres’ eigenen Worten. Könnte es sein, dass ihr Ausruf ›Du!‹, kurz vor ihrem Tod, eine Reaktion auf irgendwelche Wahnvorstellungen war? Dass der Wahnsinn sie bereits fest im Griff hatte? Wir werden es nie erfahren. Ich bin allerdings sehr geneigt, den Geschworenen zu empfehlen, dass sie auf ›Selbsttötung infolge krankhafter Störung der Geistestätigkeit‹ entscheiden.
    »Aber ich bin kein Arzt«, fuhr er fort. »Sie sind der Hausarzt der Familie gewesen, und ich hätte gern, dass Sie dieses Verdikt unterstützen. Wenn Sie dem nicht zustimmen können, dann müssen Sie es mir ganz offen sagen; in diesem Falle wird meine Empfehlung an die Geschworenen anders ausfallen müssen. Können Sie mir hierin zustimmen oder nicht?«
    Ich blickte auf meine Hände herab, die ein wenig zitterten. Im Saal war es noch wärmer geworden, und ich war mir unangenehm der Blicke der Geschworenen bewusst, die auf mir lagen. Wieder hatte ich das Gefühl, dass hier etwas vor Gericht stand, in das ich persönlich und schuldhaft verstrickt war.
    Gab es hier tatsächlich eine familiäre Veranlagung zum Wahnsinn? War es das, was die Familie Tag für Tag, Monat für Monat gequält und schließlich zerstört hatte? Das schien Riddell jedenfalls zu glauben, und früher hätte ich ihm wahrscheinlich auch zugestimmt. Genau wie er hätte ich die Beweise vorgetragen und sie so ausgelegt, dass sie meine Theorie stützten. Doch mein Vertrauen in diese Theorie war inzwischen erschüttert. Es kam mir so vor, als sei das Unglück, das über Hundreds Hall hereingebrochen war, weitaus eigenartiger – nichts, über das man so einfach in einem kleinen, schlichten Gerichtssaal entscheiden konnte.
    Aber was war es dann?
    Ich blickte in ein Meer von aufmerksamen Gesichtern. Ich sah Graham und Hepton und Seeley. Ich glaube, Seeley nickte mir kaum merklich zu – obwohl mir nicht klar war, ob er mich damit auffordern wollte, zu sprechen oder zu schweigen. Ich sah Betty, die mich mit ihren hellen, verwirrten Augen anschaute … Dann schob sich über dieses Bild ein anderes: die Empore auf Hundreds, hell erleuchtet vom Mondlicht. Und wieder schien ich Caroline vor mir zu sehen, wie sie festen Schrittes darüberging. Ich sah, wie sie mit skeptischem Blick die Treppen emporstieg, als würde sie von einer bekannten Stimme gerufen; ich sah, wie sie in der Dunkelheit
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