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Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)

Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)

Titel: Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)
Autoren: Stefan Holtkötter
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1
    Draußen zog die Dämmerung herauf.
    Ein neuer Tag.
    Siegfried Wüllenhues stand am Fenster der Werkstatt und blickte hinaus. Dunst lag über den Wiesen, Raureif überzog Gräser und Zweige, und hinter den kahlen Wipfeln der Bäume konnte er den alten Kirchturm von Düstermühle sehen. Ein weiterer grauer Wintertag kündigte sich an. Es war nicht mehr lang bis zur Wintersonnenwende, und dann würde irgendwann die eisige Kälte hinzukommen.
    Wann hatte er angefangen, sich vor dem Winter zu fürchten? Vor der Dunkelheit und der Kälte? Wann hatte er begonnen, sich zu fragen, wie viele Sommer er noch vor sich haben mochte?
    Er wandte sich vom Fenster ab. Es hatte keinen Sinn, über diese Fragen nachzugrübeln.
    In der Werkstatt war es still, abgesehen vom Pendelschlag der alten Wanduhr. Auf der Werkbank lagen Scheren, Zangen und Messer. Weidenruten, abgeschälte Rinde und mittendrin eine begonnene Korbarbeit. Ein Ring abstehender Stöcke, die durch ein Flechtmuster gehalten wurden. Der Raum strahlte Behaglichkeit aus, hier drinnen herrschten Ruhe und Frieden.
    Aber damit war es nun vorbei. Siegfried Wüllenhues machte sich an seine Arbeit. Er stieg über die Blutlache am Boden und durchschritt den Raum. Den Toten beachtete er nicht.
    Schmerz durchfuhr seinen Körper. Das Rheuma würde ihn noch einmal umbringen. Bei diesem kalten Wetter war es immer am schlimmsten. Es gab Tage, an denen war er kein Mensch mehr, so groß wurden die Schmerzen.
    Er biss die Zähne zusammen. Vorsichtig griff er nach dem Kanister und schraubte den Verschluss ab. Benzindämpfe stiegen auf. Seine Bewegungen waren langsam und qualvoll. Er goss Benzin über die Werkbank und den Teppich und schließlich auch über die Leiche am Boden. Dann spritzte er Flüssigkeit gegen die Wände und zog mit dem letzten Rest Benzin eine Spur hinaus auf den Hof. Mit einem Seufzer stellte er den leeren Kanister ab. Wenn dies alles vorüber war, wollte er sich in seinen weichen Sessel an die Heizung setzen. In der Zeitung lesen und dabei die Wärme genießen.
    Zurück in der Werkstatt warf er einen letzten Blick auf den Toten. Alfons war ein alter Mann. Wie er selbst, wie sie alle.
    Die Benzindämpfe nahmen ihm den Atem. Besser, er hielt sich nicht zu lange hier drinnen auf. Vorsichtig trat er zurück in die frostige Luft. Er atmete ein paarmal durch. Kleine Wölkchen bildeten sich vor seinem Gesicht. Plötzlich spürte er ein Ziehen in seiner Brust. Was war das nur wieder?
    Er zog ein Streichholzbriefchen aus seiner Jackentasche. Gleich das erste Zündholz setzte die Werkstatt in Brand. Der benzingetränkte Raum brannte lichterloh. Flammen züngelten gierig an den morschen Holzbalken, eine kleine Scheibe explodierte in der Hitze. Siegfried Wüllenhues trat einen Schritt zurück. Er wollte die Flammen nicht sehen. Er hasste das Feuer, es war schon immer so gewesen. Außerdem wäre es ratsam zu verschwinden, bevor ihn einer entdeckte. Doch das Ziehen in seiner Brust kehrte zurück. Es wurde stärker. Auf einmal konnte er sich kaum noch bewegen. Er krümmte sich, griff mit den Händen nach seiner Brust, rang nach Luft. Was passierte mit ihm? Was war nur los?
    Er sackte auf dem Boden zusammen. Die Erde war von pelzigem Raureif überzogen. Er spürte die kalten Kristalle an seinem Gesicht. Das Herz. Es musste sein Herz sein. Was immer hier passierte, das war nicht das Rheuma.
    Brandgeruch stieg ihm in die Nase. Die Schmerzen wurden übergroß. Er war jetzt im Keller. Natürlich. Alles kam zurück. Die lodernden Flammen, das Heulen der Sirenen, die Geräusche der Flugzeuge. Er war ein kleiner Junge, stumm und ängstlich, und um ihn herum brach die Hölle aus. Über ihm das Pfeifen der Bomben und der brechende Beton. Alles war erfüllt vom beißenden Qualm und dem Geruch von
Feuer.
    Er bekam keine Luft mehr. Die Schmerzen in der Brust raubten ihm den Atem. Die Angst war ihm so vertraut, immer noch, nach all den Jahren. Er hatte sie nie vergessen. Es war die nackte Todesangst.
    Er versuchte, in der Gegenwart zu bleiben. Das war nur Alfons’ Werkstatt, die dort brannte. Doch es war zu spät. Menschen schrien. Das Haus über dem Keller war plötzlich fort. Feuer und Rauch. Kinder mit grauen Gesichtern und leblosen Blicken. Eine Frau, die im glühenden Asphalt versank, eine lebende Fackel. Die stinkende Wanne mit schwarzem schlammigem Wasser, in das er wieder und wieder getaucht wurde. Der Lärm, die Schreie, der beißende Qualm.
    Er hatte diesen Keller nie
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