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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman
Autoren: Sarah Waters
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mit deutlicheren Worten, und sie kehrte wieder zu ihrem Vater ins Publikum zurück.
    Und dann war ich an der Reihe. Riddell rief mich in den Zeugenstand, ich erhob mich und nahm meinen Platz ein, begleitet von einem Gefühl der Furcht, beinahe als sei dies eine Art Strafprozess, in dem ich als Angeklagter stand. Der Gerichtsdiener nahm mir den Eid ab, doch als ich ihn nachsprechen wollte, musste ich mich räuspern und die Worte noch einmal wiederholen. Ich bat um ein Glas Wasser, und Riddell wartete geduldig ab, während ich es austrank.
    Dann begann er mit seiner Befragung. Er erinnerte das Gericht noch einmal an die Zeugenaussagen, die wir bisher gehört hatten.
    Unsere Aufgabe, so sagte er, sei es, die Umstände von Miss Ayres’ tödlichem Sturz zu klären, und soweit er es bisher sehen könne, gäbe es noch verschiedene Möglichkeiten. Ein Verbrechen gehöre seiner Ansicht nach nicht dazu; keines der Indizien würde in diese Richtung deuten. Auch eine körperliche Erkrankung scheide wohl aus, wenn man Dr. Grahams Obduktionsbericht betrachte – obwohl es natürlich durchaus möglich sei, dass Miss Ayres – aus welchem Grund auch immer – geglaubt hatte, sie sei krank, und dieser Glaube könnte sie möglicherweise so weit verunsichert und geschwächt haben, dass sie schließlich stürzte. Oder, wenn wir uns daran erinnerten, was das Dienstmädchen der Familie gehört haben wollte – den Ausruf – , könnten wir auch schließen, dass sie durch etwas anderes erschreckt worden war, etwas, was sie gesehen hatte oder geglaubt hatte zu sehen, und als Folge dieses Schrecks ihren Halt verloren hatte. Gegen diese Theorien sprachen allerdings die Höhe und offensichtliche Stabilität des Treppengeländers.
    Doch es gäbe noch zwei weitere Möglichkeiten. Beide seien eine Form der Selbsttötung. Miss Ayres könne sich vorsätzlich, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, von der Empore gestürzt haben, um sich das Leben zu nehmen, mit anderen Worten: ein Freitod. Oder aber sie war zwar gesprungen, aber als Reaktion auf irgendeine Wahnvorstellung.
    Er blätterte in seinen Notizen und wandte sich dann mir zu. Ich sei, so wisse er, der Hausarzt der Familie gewesen. Miss Ayres und ich seien ebenfalls … Es täte ihm leid, das Thema erwähnen zu müssen, doch er habe gehört, dass Miss Ayres und ich auch vor kurzem noch verlobt gewesen seien. Er würde sich bemühen, so sagte er, seine Fragen so behutsam wie möglich zu stellen, doch er sei bestrebt, so viel wie möglich über Miss Ayres’ emotionalen Zustand in der Nacht ihres Todes herauszufinden, und er hoffe, dass ich ihm helfen könne.
    Ich räusperte mich noch einmal und erwiderte, dass ich mein Bestes tun würde.
    Er fragte mich, wann ich Caroline zum letzten Mal gesehen hätte. Ich erwiderte, dass ich sie zuletzt am Abend des sechzehnten Mai gesehen hätte, als ich Hundreds Hall gemeinsam mit Mrs. Graham, der Frau meines Praxispartners, besucht hätte.
    Er erkundigte sich nach Carolines Gemütsverfassung an jenem Abend. Sie und ich hätten erst kurz zuvor die Verlobung aufgelöst, sei das richtig?
    »Ja«, erwiderte ich.
    Sei der Entschluss in beiderseitigem Einvernehmen erfolgt?
    »Ich hoffe, Sie verzeihen die Frage«, fügte er hinzu, wohl als Reaktion auf meinen Gesichtsausdruck. »Ich versuche nur festzustellen, ob die Trennung Miss Ayres über Gebühr erschüttert hat.«
    Ich blickte zu den Geschworenen hinüber und dachte, wie sehr Caroline diese ganze Veranstaltung missfallen hätte. Es wäre ihr sicher zutiefst zuwider gewesen, uns hier zu sehen, in unseren schwarzen Anzügen, wie wir wie Krähen in einem Kornfeld in den letzten Tagen ihres Lebens herumpickten.
    Ruhig entgegnete ich: »Nein, ich glaube nicht, dass es sie über Gebühr erschüttert hat. Sie … Sie hatte es sich anders überlegt, mehr nicht.«
    »Sie hatte es sich anders überlegt, ich verstehe … Und eine Folge dieses Sinneswandels war es wohl auch, dass Miss Ayres sich entschlossen hat, das Haus ihrer Familie zu verkaufen und die Gegend zu verlassen. Was haben Sie davon gehalten?«
    »Nun, es hat mich überrascht. Ich fand es übertrieben.«
    »Übertrieben?«
    »Unrealistisch. Caroline sprach davon auszuwandern, nach Amerika oder Kanada. Sie sprach davon, ihren Bruder mitzunehmen.«
    »Ihren Bruder, Mr. Roderick Ayres, der sich zurzeit in einer privaten Einrichtung für psychisch Kranke befindet?«
    »Ja.«
    »Sein Zustand ist ernst, wie ich gehört habe. War Miss Ayres über seine
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