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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman
Autoren: Sarah Waters
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man ihn beinahe ständig sediert hält und er nur noch ein Schatten des jungen Mannes ist, der er einst war. Ich besuche ihn, sooft ich kann, was inzwischen auch einfacher ist als früher: Seit die Familieneinkünfte der Ayres endgültig dahingeschmolzen sind, konnte er nicht mehr in Dr. Warrens recht kostspieliger Privatklinik bleiben und wurde in das psychiatrische Bezirkskrankenhaus verlegt, auf eine Station mit elf weiteren Patienten.
    Die Neubausiedlung am Rande des Parks von Hundreds Hall hat sich als großer Erfolg erwiesen – so groß, dass im Laufe des letzten Jahres noch zwölf weitere Häuser gebaut wurden und weitere in Planung sind. Viele der dort wohnenden Familien haben sich bei mir registriert, daher bin ich bei meinen Hausbesuchen häufig dort. Die Häuser sind einigermaßen behaglich und komfortabel, haben gepflegte Blumen- und Gemüsebeete, und für die Kinder wurden Schaukeln und Rutschen aufgestellt. Nur eine große Veränderung gab es: Der Drahtzaun am Ende der Gärten wurde durch einen hohen Holzzaun ersetzt. Die Familien selbst haben darauf bestanden; offenbar mochte niemand den Ausblick auf Hundreds Hall, der sich den Leuten durch ihre rückwärtigen Fenster bot; alle sagten, das Haus sei ihnen »nicht geheuer«. Nach wie vor machen Gerüchte über den Geist von Hundreds Hall die Runde, vor allem unter den jüngeren Leuten und den neu Hinzugezogenen, jenen also, die die Ayres selbst nie gekannt haben. Besonders beliebt scheint eine Geschichte zu sein, der zufolge im Herrenhaus der Geist eines Dienstmädchens spukt. Es sei von seinem grausamen Herrn schlecht behandelt worden und habe den Tod gefunden, als es aus einem der Fenster im oberen Stockwerk sprang oder gestoßen wurde. Angeblich sieht man das Mädchen des Öfteren verzweifelt schluchzend durch den Park irren.
    Einmal bin ich auf der Straße vor den Neubauten Betty begegnet. Eine der dort lebenden Familien ist mit ihr verwandt. Das war ein paar Monate nach Carolines Tod. Während ich mein Auto parkte, sah ich eine junge Frau und einen jungen Mann aus einem Gartentor kommen. Als ich meine Autotür heranzog, um die beiden vorbeigehen zu lassen, blieb die junge Frau stehen und fragte: »Kennen Sie mich nicht mehr, Dr. Faraday?« Ich blickte ihr ins Gesicht und sah ihre großen grauen Augen und die schiefen kleinen Zähne; andernfalls hätte ich sie wohl kaum wiedererkannt. Sie trug ein billiges Sommerkleid mit modisch weit schwingendem Rock. Ihr ehemals farbloses Haar war getönt und in Dauerwellen gelegt, Lippen und Wangen hatte sie sich rot geschminkt. Sie war immer noch klein, jedoch nicht mehr ganz so zierlich und dünn wie früher; vielleicht hatte sie ja auch irgendeinen Trick gefunden, ihre Figur künstlich zu verbessern. Sie muss fast sechzehn gewesen sein. Sie erzählte mir, dass sie nach wie vor bei ihren Eltern wohnte und ihre Mutter noch immer »genau wie früher« sei. Doch wenigstens habe sie endlich die Arbeit gefunden, die sie wollte, in einer Fahrradfabrik. Die Arbeit selbst sei zwar ziemlich öde, aber immerhin hätte sie viel Spaß mit den anderen Mädchen. Abends und an den Wochenenden hätte sie frei und würde oft in Coventry tanzen gehen. Während sie sprach, blieb sie die ganze Zeit über bei dem jungen Mann eingehakt. Er schien etwa zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig zu sein; fast so alt wie Roderick.
    Sie sprach weder die gerichtliche Untersuchung noch Carolines Tod an, und während sie vor sich hin plapperte, dachte ich schon, dass sie auch Hundreds mit keinem Wort erwähnen würde – gerade so, als habe die düstere Zeit dort keinerlei Spuren bei ihr hinterlassen. Doch dann schauten die Leute, die sie besucht hatte, aus dem Fenster und riefen den jungen Mann noch einmal zu sich, und nachdem er weggegangen war, schien ihre Fröhlichkeit ein wenig zu verblassen.
    »Macht es dir denn nichts aus hierherzukommen, wo du Hundreds Hall so nahe bist, Betty?«, erkundigte ich mich leise.
    Sie wurde rot und schüttelte den Kopf.
    »Aber ins Haus selbst würd ich nich gehen! Keine zehn Pferde würden mich dahin zurückbringen. Ich träume vom Haus; dauernd hab ich so Träume.«
    »Tatsächlich?« In meinen Träumen kam das Haus inzwischen überhaupt nicht mehr vor.
    »Keine Alpträume«, sagte sie und zog die Nase kraus. »So komische Träume eher. Meistens träum ich von Mrs. Ayres. Ich träum, dass sie mir Sachen schenken will; Schmuck, Broschen und so was. Aber ich will sie dann nich annehmen. Ich weiß auch nich,
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