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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe
Autoren: Christa Wolf
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Zeitschichten
    Zu Thomas Mann
    Die Nachricht, daß Sie mir den Thomas-Mann-Preis zuerkannt haben, für den ich mich herzlich bedanke, hat mir einen Thomas-Mann-Sommer beschert. Aber auch eine ausschweifende Lektüre ließ mir die Aufgabe nicht leichter erscheinen, hier zu Ihnen über ihn zu sprechen. Zu Thomas Mann ist alles gesagt. Ich versuche, mich ihm über Erinnerungen zu nähern.
    Schwere Stunde hieß die kleine Erzählung, die im Herbst 1950 uns Studenten des dritten Semesters für Germanistik an der Universität Jena im Seminar für Sprecherziehung als Übungstext aufgegeben war. Ihr Autor war Thomas Mann, ihr Gegenstand Friedrich Schiller. Wir saßen, etwa zwanzig Studenten, in einem der kleineren Seminarräume, der auf eine Straße und jenseits davon auf den botanischen Garten hinausblickte. Dort sind, meine Damen und Herren, sagte unsere Sprecherzieherin, vor hundertfünfzig Jahren unsere Klassiker, Goethe und Schiller, spazierengegangen, und es ist nicht ausgeschlossen, daß sie genau über diesen Text gesprochen haben, um den Schiller sich in dieser Novelle von Thomas Mann bis zur Erschöpfung bemüht: über sein Drama Wallenstein . – Das Haus, in dem Schillers Familie wohnte, war nicht sehr weit entfernt.
    Uns allerdings ging es in dieser Übungsreihe nicht um den Inhalt der Novelle; es ging darum, kleinere und größere Sprachfehler an uns Probanden zu korrigieren. Ich erinnere mich an den Kommilitonen, der den ersten Part des Textes zu lesen hatte und nur langsam damit vorankam, weil unsere Lehrerin ihm sein Lispeln nicht durchgehen lassen wollte: »Das war ein besonderer und unheimlicher Schnupfen, der ihn fast nie völlig verließ.« Allzu viele S-Laute in einem Satz. Bei anderen war die stark thüringische oder sächsische Lautfärbung zu bean
standen, die sie als spätere Lehrer doch nicht auf ihre Schüler übertragen wollten. Wieder andere sollten es lernen, das »i« in »Milch« nicht berlinerisch »Mülch« auszusprechen.
    Das hatte ich deutlicher behalten als Einzelheiten der Novelle, die ich lange nicht mehr gelesen hatte. Was mir davon in Erinnerung blieb, war eine Atmosphäre von Qual, die sie ausstrahlte, von quälender Mühe mit der Schreibarbeit. Jetzt, als ich dieses Stück Prosa wieder vor mir hatte, sah ich, daß es »in der Nußschale« die wichtigsten Probleme anriß, die seinen Autor über die Jahrzehnte hin begleiten sollten – über ein halbes Jahrhundert hin, in dem ein kolossales Werk entstand.
    Und »begleiten« ist ein schwaches Wort. Die »schwere Stunde«, die er dem Friedrich Schiller auferlegt – er, der gerade glücklich verheiratete, nicht mehr ganz junge Autor, der sich als Fünfundzwanzigjähriger mit den Buddenbrooks einen Namen gemacht, danach neben kleineren Arbeiten die Novelle Tonio Kröger geschrieben hat, der sich also wohl hätte erfolgreich nennen und Zutrauen zu seinem Talent hätte haben können –, diese schwere Stunde durchlebt er selbst immer wieder. Seinem Bruder Heinrich schreibt er von »Depressionen wirklich arger Art mit vollkommen ernstgemeinten Selbstabschaffungsplänen«, und er muß sich eingestehen, daß auch die endlich geglückte Heirat mit der hartnäckig umworbenen Katia Pringsheim ihm nicht jene Art Dauerglück gebracht hat, nach der er sich sehnt.
    Schiller jedenfalls ist, so sieht er ihn, nächtlich allein in seinem kalten Arbeitszimmer, heimgesucht von einem »heillosen Gram der Seele«. Der Wallenstein scheint gescheitert – das Werk, »an das seine kranke Ungenügsamkeit ihn nicht glauben ließ … Versagen und verzagen – das war's, was übrigblieb.«
    »Ichsüchtig« habe man ihn genannt, schreibt Thomas Mann. Wen? Friedrich Schiller? Aber: »Ichsüchtig ist alles Außerordentliche, sofern es leidet.« So früh also schon sein Sich-Aufbäumen gegen den häufig gegen ihn erhobenen Vorwurf der Kälte, der Liebesleere, dem er zur Rechtfertigung, als Preis, den
das unerbittliche Gesetz der Kunst ihm abfordert, immer wieder den Schmerz entgegenhalten wird, der sein unabweisbarer Begleiter ist. (»Das Talent selbst – war es nicht Schmerz?«) Und doch: »Das Gewissen … wie laut sein Gewissen schrie!« Er spürt wohl – wer? Friedrich Schiller? –, daß er den Menschen, die ihm nahe sind, etwas schuldig bleibt. Er steht am Bett seiner Frau. »Bei Gott, bei Gott, ich liebe dich sehr! Ich kann mein Gefühl nur zuweilen nicht finden, weil ich oft sehr müde vom Leiden bin und vom Ringen mit jener Aufgabe, welche mein Selbst
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