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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe
Autoren: Christa Wolf
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Herrn Friedemann, auch des Tonio Kröger, mit seinem traurigen Befund: »das Menschliche darzustellen, ohne am Menschlichen teilzuhaben«. Dieses Leid wird auch dem Gustav Aschenbach zuteil, und es wird in den großen Romanen bei einigen der Protagonisten als tiefste Seelenregung beschrieben. Das Thema Liebe kann man als eine der wichtigsten, vielleicht die wichtigste Erzählachse in Thomas Manns Werk sehen: Es rührt an die innerste Wesensebene des Autors, wo jenes Konfliktmaterial sich gleichzeitig verbirgt und unermüdlich arbeitet, das ihn zum Schreiben zwingt. Als sein persönlichstes Werk
wird Thomas Mann den Faustus bezeichnen. Die persönliche Sphäre hat mich bei der neuerlichen Lektüre besonders gereizt, vielleicht weil ich mir, selbst in einer Lebenskrise, von diesem Werk der Krise irgendeine Art von Aufklärung und Beistand erhoffte.
    »Herzpochendes Mitteilungsbedürfnis« habe ihn, Serenus Zeitblom, den schlichteren Lebensfreund des genialen, doch hoch gefährdeten Künstlers bewogen, sich an eine Biographie des Freundes zu wagen. Und er könnte dieses Wagnis nicht gültiger rechtfertigen als mit dem Bekenntnis: »Ich habe ihn geliebt – mit Entsetzen und Zärtlichkeit, mit Erbarmen und hingebender Bewunderung.«
    Das habe der andere nicht getan, o nein. »Wen hätte dieser Mann geliebt? Einst eine Frau – vielleicht. Ein Kind zuletzt – es mag sein. … Wem hätte er sein Herz eröffnet, wen jemals in sein Leben eingelassen? … Seine Gleichgültigkeit war so groß, daß er kaum jemals gewahr wurde, was um ihn her vorging. … Ich möchte seine Einsamkeit einem Abgrund vergleichen, in welchem Gefühle, die man ihm entgegenbrachte, lautlos und spurlos untergingen. Um ihn war Kälte .« Dies steht nun auf der Seite fünf eines Romans, der sechshundertachtzig Seiten haben wird. Und noch immer in einem frühen Kapitel – es gibt schon erste Anzeichen, daß Leverkühn, wenn er das auch bestreitet, von der Musik besessen ist – mokiert er sich über die »Stallwärme« in der Musik, worauf Zeitblom sie ein »Gottesgeschenk« nennt und schlichtweg verlangt: »Man soll sie lieben.« Darauf Adrian: »Hältst du die Liebe für den stärksten Affekt?« – »Weißt du einen stärkeren?« – »Ja, das Interesse.« – »Darunter verstehst du wohl eine Liebe, der man die animalische Wärme entzogen hat?« – »Einigen wir uns auf die Bestimmung!«
    Nun hat ja Thomas Mann fünf Jahre, ehe er diese Zeilen schrieb, nämlich überraschender- und bezeichnenderweise in seinem Beitrag Bruder Hitler , schon einmal in einem bedeutsamen Sinn von »Interesse« gesprochen. Er fühlt, daß es »nicht
seine besten Stunden« sind, in denen er das »arme, wenn auch verhängnisvolle Geschöpf« haßt. Liebe und Haß seien große Affekte. Aber eben als Affekt unterschätze man gewöhnlich jenes Verhalten, in dem »beide sich aufs eigentümlichste vereinen, nämlich das Interesse«. Man unterschätze damit zugleich seine Moralität.
    Widerstrebend, doch mit Interesse verfolgte ich die Fäden, die sich in den Texten von Thomas Mann zwischen zwei scheinbar einander ausschließenden Persönlichkeiten ziehen. Nicht einmal das Genie, in seinem Verständnis eine hoch problematische Anlage, will Thomas Mann diesem Hitler, diesem »duckmäuserischen Sadisten«, absprechen: »Wenn Verrücktheit zusammen mit Besonnenheit Genie ist (und das ist eine Definition!), so ist der Mann ein Genie.« Und er ist des Teufels.
    Der andere aber, sein äußerster Gegenpart, besessen von seinem Werk, ein einziges Mal in seinem Leben von der Berührung einer Frau, die ihm ins Blut gegangen ist, tief verstört, muß diese Berührung wieder suchen, findet die Frau, Hetera Esmeralda, den durchsichtigen Schmetterling, meidet ihren Körper nicht, vor dem sie ihn warnt, genießt die Lust, die ihn vergiftet.
    Das Gespräch mit dem Teufel führt – aber »führt« ist das falsche Wort – Adrian in Italien, 1913, vor dem ersten großen Krieg. Aufgeschrieben hat Thomas Mann es über die Jahreswende 1944/45 in Pacific Palisades, während die Nachrichten aus Deutschland das nahe Ende des Dritten Reiches signalisieren, dem der braven Serenus Zeitblom in der deutschen Kleinstadt Kaisersaschern mit Entsetzen und Trauer entgegensieht. Der Autor beendet die Aufzeichnung dieses Gesprächs im Februar 1945, drei Monate, ehe Deutschland kapituliert – eine unheimliche Parallelität. Im Tagebuch, das neben dem Teufelsgespräch herläuft, notiert er den Einfluß des
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