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Castello Christo

Titel: Castello Christo
Autoren: Arno Strobel
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3.   NOVEMBER 1988
    Mailand
    1
    Der Alte zog den Kragen seines schmutzigen Mantels enger. Der Wind war eisig geworden in den letzten Tagen. Er wusste nicht, welches Datum war. Er wusste nicht einmal den Wochentag. Dinge wie ein Kalender spielten für ihn schon lange keine Rolle mehr. Es musste wohl Ende Oktober oder Anfang November sein, eindeutig zu früh jedenfalls für diese verdammte Kälte.
    Früher, in einem anderen Leben, hatte er sich auf den Winter gefreut. Früher – da hatte es auch noch den Professore Edoardo Calgietti gegeben. Damals hatten die ersten Eisblumen an den Scheiben ihn noch mit Vorfreude erfüllt, Vorfreude auf lange Waldspaziergänge im dicken Mantel, während derer er seine Lungen mit kalter, klarer Luft fluten konnte, und auf den Advent mit seinen würzigen Düften und gemütlichen Abenden vor dem Kamin. Damals   ...
    Das Geräusch, mit dem seine schwere Plastiktüte über den Boden der menschenleeren Straße schleifte, vertrieb die Bilder einer Vergangenheit, die mit der Zeit immer nebulöser wurden. Irgendwann würden sie ganz aus seinem Gedächtnis gelöscht sein. Der Schnaps würde es schon richten.
    Edoardo dachte an die halb leere Flasche, die er in der Tüte mit sich trug, und augenblicklich wurde sein Gaumen trocken. Nur noch wenige Minuten, dann würde er den Bretterzaun erreichen, hinter dem, sorgsam vor denBlicken der achtbaren Bürger verborgen, der halb zerfallene Ziegelsteinbau lag, dessen Keller im Moment sein Zuhause war. Gleich könnte er auf sein Lager aus Styroporresten und alten Kartons sinken und die wertvolle Flasche auspacken, die ihm mit jedem Schluck ein weiteres Stück des Vergessens schenken würde. Er würde den Ratten bei ihrer Suche nach etwas Fressbarem zusehen, und irgendwann würde dann der gnädige Schlaf über ihn kommen   ...
    Der Durst begann quälend zu werden, und Edoardo blieb stehen und hob den Kopf, um abzuschätzen, wie weit es noch bis zu seiner Behausung war. Er hatte sich angewöhnt, den Blick beim Gehen gesenkt zu halten, sich wie unter einer Glasglocke auf die abwechselnd unter ihm auftauchenden Spitzen seiner ausgetretenen Schuhe zu konzentrieren, auf ihr sinnloses Wettrennen, bei dem der führende im Sekundentakt wechselte. So ersparte er sich den Anblick einer Welt, von der er sich selbst ausgeschlossen hatte.
    Im Licht der einsetzenden Abenddämmerung kam ihm ein Erstklässler entgegen. Der Junge trug einen Schulranzen und hatte die Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergraben. Ein fröhliches Lied pfeifend, kickte er einen Stein vor sich her. Edoardo drückte sich in das Dunkel einer Toreinfahrt. Solche Rotzbengel machten ihm Angst.
    Da stoppte neben dem Kleinen ein Wagen. Während sich Edoardo noch verwundert fragte, woher das Fahrzeug so schnell gekommen war, sprangen zwei kräftige, ganz in Schwarz gekleidete Männer heraus und stürzten sich auf den Jungen. Einer packte ihn unter den Achseln, der zweite an den Füßen, und schon waren sie wieder im Inneren des Wagens verschwunden, der sofort davonbrauste. Das Ganze hatte keine Minute gedauert, undnach weiteren dreißig Sekunden hatte sich das Motorengeräusch in einer Seitenstraße verloren.
    Wie gebannt starrte Edoardo auf die Stelle, wo das Heck des Wagens hinter dem Eckhaus verschwunden war. Diese Männer in den schwarzen Anzügen – etwas stimmte hier nicht   ... Mein Gott, sagte eine Stimme von seltener Klarheit in ihm, diese Schurken haben gerade vor deinen Augen einen kleinen Jungen entführt. Aber da war noch etwas anderes gewesen. Etwas, das ihm seltsam vertraut vorkam, ohne dass er es hätte benennen können. Etwas, das nicht ins Bild passte   ...
    Ungeachtet der Tatsache, dass er seine Schlafstelle noch nicht erreicht hatte, griff er in die Tüte und zog die Schnapspulle heraus. Er trank sonst nie auf der Straße; eines der letzten Relikte aus seinem früheren Leben. Doch daran dachte Edoardo in diesem Moment nicht. Mechanisch schraubte er den Verschluss ab und setzte die Flasche an die Lippen. Der Fusel rann brennend seine Kehle hinunter, und für einen kurzen Augenblick überkam ihn ein wahrhaft göttliches, allmächtiges Gefühl.
    Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, er versuchte ihn zu fassen und vergaß dabei zu schlucken, so dass er einen fürchterlichen Hustenanfall bekam. Weit nach vorne gebeugt stand er da, sein Körper krampfte sich mit jedem bellenden Husten zusammen, bis er endlich wieder zu Atem kam. Mit dem Ärmel seines
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