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Schwaben-Wahn

Schwaben-Wahn

Titel: Schwaben-Wahn
Autoren: Klaus Wanninger
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1. Kapitel
    Die im hellen Gelb des frühen Morgens aufleuchtende Kugel der Sonne schob sich genau in dem Moment über die Kronen der Bäume, als er den Vorplatz des Bärenschlößles erreicht hatte. Ihre gleißenden Strahlen tauchten das enge Tal des zwischen sanften Berghängen und Wiesenterrassen eingebetteten Sees in ein flirrendes Licht, rissen die schmale Senke aus ihrem Dämmer. Binnen weniger Sekunden veränderte sich die gesamte Umgebung.
    Kai Dolde blieb schwer atmend stehen, gab sich dem Morgen für Morgen immer wieder aufs Neue faszinierenden Naturschauspiel hin. In den Wiesen rings um ihn herum begann es zu glitzern. Tausende von Wassertröpfchen, geboren im feuchten Niederschlag der nächtlich-kühlen Luft, blinkten im Gras und auf den Zweigen. Winzige, vom Taumel des Frühlings erst seit wenigen Tagen geweckte Knospen öffneten zaghaft ihre schützende Hülle, streckten sich verlangend dem wärmenden Licht entgegen. Scharen von Vögeln beschleunigten das Tremolo ihrer frühen Gesänge, Bienen und Insekten stoben summend in die Luft. In der Senke des schmalen Tales erwachten von Minute zu Minute immer neue Teile des Sees zum Leben: Tausende zarter Elfen aus nichts als Luft und Licht schienen auf der leicht gekräuselten Wasseroberfläche zu tanzen, millionenfach das Gleißen der Sonnenstrahlen reflektierend.
    Kai Dolde wischte sich den Schweiß von der Stirn, atmete tief durch. Kurz vor sieben an diesem Morgen war er von seiner Wohnung in Botnang, einem ruhig gelegenen Stadtteil Stuttgarts aus gestartet, um durch den langsam erwachenden Wald zum Bärenschlößle zu joggen. Wie zu dieser frühen Stunde üblich, hatte er kaum mehr als eine Hand voll anderer Sportler getroffen. Die meisten wie er zu Fuß, einige wenige auf geländegängigen Fahrrädern unterwegs. Kopfnickend waren sie aneinander vorbeigesprintet. Ein kurzer Gruß, manchmal ein Aufleuchten der Augen als Zeichen des Wiedererkennens.
    Dolde liebte Stunden wie diese, wenn Stadt und Umgebung noch in den letzten Zügen des nächtlichen Schlummers lagen und er in Ruhe und Frieden das Erwachen der Natur genießen konnte. Autos und Motorräder blieben hier ausgesperrt, das Areal des Rot- und Schwarzwildparks rund um die Seen vom Lärm und den Abgasen der ansonsten allgegenwärtigen modernen Pestilenz verschont. Die wenigen Läufer und Radler, die zu dieser Zeit unterwegs waren, wirkten nicht störend – erst später, wenn ihre Zahl, ergänzt von Scharen von Ausflüglern, zu einer wahren Völkerwanderung anwuchs, fiel die Gegend um das Bärenschlößle unüberhörbar dem Einfluss lachender und schreiender Massen anheim.
    Bis es soweit war, hatte sich Dolde längst wieder auf den Weg gemacht: Mehr als dreißig Minuten gönnte er sich selten. Er benötigte den Lauf am Morgen, die anregende Bewegung seiner Glieder, das kräftige Durchatmen in der würzigen Luft des Waldes fast ebenso wie seine täglichen Mahlzeiten; zwang ihn das Studium der Verfahrenstechnik, dessen Abschluss er seit mehreren Monaten mit der Erstellung seiner Examensarbeit vorbereitete, doch dazu, alle Tage bis spät in die Nacht hinein an verschiedenen Computer-Bildschirmen und Analysegeräten zu verbringen.
    Kai Dolde atmete tief durch, schaute hinunter ins Tal, wo die Sonnenstrahlen immer entlegenere Teile des Bärensees zu neuem Leben erweckten. Er folgte dem Spiel des Lichts mit seinen Augen, glaubte Myriaden unsichtbarer Wesen über die Wasseroberfläche schweben zu sehen. Sie tänzelten auf und nieder, hin und her, anmutig, geräuschlos und ohne jede Pause. Das gesamte Areal schien sich in eine funkelnde, glänzende Fläche zu verwandeln.
    Plötzlich wurde Dolde aus seinen Träumen gerissen. Grelles Licht blendete seine Augen, mitten aus dem Wasser in die Höhe schießend. Irritiert hielt er sich die Hand über die Stirn, versuchte zu erkennen, was den blendenden Strahl verursachte. Er hatte Mühe, mehr als nur die Umrisse der steil vor ihm abfallenden Landschaft wahrzunehmen. Seine Augen passten sich erst langsam wieder an. Er blickte in die Tiefe, musterte die Oberfläche des Sees. Da erkannte er, was den grellen Strahl verursacht hatte: Eine Glasscheibe reflektierte das Licht der Sonne. Verwundert ging er weiter, suchte die Oberfläche des Sees ab. Und nun – so absurd ihm die Szenerie auch erschien – begriff er doch endlich, dass das Glas zu einem Auto gehörte, das mit seinem rückwärtigen Teil aus dem Wasser ragte: mitten im einzigartig idyllisch zwischen die sanft
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