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Die Feen - Hallmann, M: Feen

Die Feen - Hallmann, M: Feen

Titel: Die Feen - Hallmann, M: Feen
Autoren: Maike Hallmann
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1 Abwärts
    1 ABWÄRTS
    E s ging so steil abwärts, dass Benny kurz glaubte, er wäre zu weit über die Kante getreten und stürzte nach unten, den Felsen entgegen und dem grauen, wilden Meer, das sie umspülte. Aber es war nur sein Blick, der stürzte, sein Körper stand sicher oben, mit vor der Brust verschränkten Armen und einem Ausdruck im Gesicht, als hätte er noch nie etwas Alberneres gesehen als die schottische Steilküste. Neben ihm stand sein Vater und strahlte ihn an, Benny wusste es, ohne hinzusehen. »Toll, nicht?«, glaubte er über dem Sausen des Winds und dem Tosen der fernen Brandung dort unten zu hören. Er hob die Brauen, sammelte Speichel im Mund und spuckte aus. Wo der Speichelklumpen landete, konnte er nicht sehen, er dachte, dass er Glück gehabt hatte, dass der Wind ihn nicht zurück in sein Gesicht geschleudert hatte, aber am verletzten Schweigen und der Körperhaltung seines Vaters, den er sorgsam aus dem Augenwinkel beobachtete, erkannte er, dass die Botschaft angekommen war, und nur darauf kam es an.
    Stumm standen sie da und starrten hinunter. Benny hob den Blick, kniff die Augen zusammen und schaute übers Meer, grau unter dem verhangenen Himmel, dann wieder hinunter. Viel tiefer, als er erwartet hatte, sah er unten die schroffen Felsen. Schottland starrte ihn mit derselben Gleichgültigkeit an wie umgekehrt. Angesichts dieser alten Felsen und ungeheuren Tiefe war Benny ein Nichts, nur ein winziger Mensch, der kurz vorbeikam und wieder ging und die Felsen und das Meer nicht interessierte. Er atmete tief ein, und in ihm löste sich ein fester Knoten. Plötzlich erfüllte ihn, wenn schon nicht Heiterkeit, dann doch Leichtigkeit, als fließe Blei aus seinen Poren und lasse ihn hohl und leer und fast schwerelos zurück. Er dachte: Es wäre so einfach. Ein kleiner Schritt, ein Sturz. Oben sein entsetzter, sein fassungsloser Vater, unten Benny, zerschmettert auf den Felsen. Und vorbei. So viel Bedeutung hatte ein menschliches Leben, dass es binnen eines Lidschlags ausgelöscht werden konnte. Gar keine also. Er lächelte.
    »Siehst du?«, brüllte sein Vater zufrieden. »Hab’s doch gewusst, das gefällt dir!«
    Benny wandte ihm das Gesicht zu und betrachtete ihn. Joachim Reutter, Ende vierzig, das müde Gesicht voller Falten und die Augen erfüllt vom zwanghaft wilden Entschluss, dem Leben etwas abzugewinnen. Alt war er geworden, fand Benny. Oder er war schon immer alt gewesen. Seine Mutter hatte gefunden, sie sähen einander ähnlich. Tatsächlich hatten sie beide die schmale Statur eines Läufers und das gleiche aschblonde Haar. Da aber, fand Benny, endete die Ähnlichkeit.
    Er wendete den Blick wieder ab, aber der Gedanke zu springen hatte seinen Reiz verloren, ihm war viel zu kalt dafür, und vom dummen Gesicht seines Vaters hätte er ja dann ohnehin nicht viel gehabt. Statt auf die Felsen sah er aufs Meer hinunter. Es lud nicht gerade zum Baden ein. Aber ganz unten lag ein kleiner, sichelförmiger Strand, und Benny fragte sich, ob man irgendwie hinunterkäme, wenn man es darauf anlegte.
    Sein Vater warf einen Blick auf die Uhr, eine silberne Armbanduhr, etwas zu locker für sein Handgelenk. Ihr Anblick war Benny ebenso vertraut wie die Bewegung, mit der sein Vater den Arm vorstreckte, um den Ärmel zurückzustreifen, und dann mit so bedeutsam zusammengekniffenen Augen auf das große Ziffernblatt schaute, als gebiete er persönlich über die Zeit aller Menschen auf diesem Planeten. Manchmal hatte sich Benny gefragt, ob er dabei wirklich auf die Zeit achtete oder ob dieser Blick auf die Uhr nur dazu diente, seine Autorität bezüglich des Zeitplans zu unterstreichen.
    »Wir sollten mal«, brüllte sein Vater gegen den Wind an.
    Leck mich doch, dachte Benny. Er blieb stehen, statt seinem Vater hinterherzutraben, und betrachtete das Meer, das sich wütend gegen die Felsen warf. Ein Wunder, dass Schottland nicht pro Jahr um einen Kilometer zusammenschrumpfte, weil sich die Wellen durch die Küste fraßen.
    Plötzlich verebbte der Wind. Für die Dauer eines tiefen Atemzugs war es ganz still. Ein leiser Windzug strich über Bennys Wange, ganz sachte, und im nächsten Augenblick brüllte der übermütige Küstenwind wieder los, riss an Bennys Kleidung, ließ sie knattern und schlug ihm die Kapuze seiner zu dünnen Jacke um die Ohren.
    Verwirrt blinzelte Benny und griff sich an die Wange. Dann wandte er sich vom Abgrund ab und trottete seinem Vater hinterher, der schon ungeduldig im Auto
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