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Eiszeit in Bozen

Eiszeit in Bozen

Titel: Eiszeit in Bozen
Autoren: Burkhard Rueth
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Prolog
    Vor mehr als dreißig Millionen Jahren driftete die
afrikanische Kontinentalplatte nach Norden, auf vollem Konfrontationskurs mit
der großen eurasischen Platte, über die sie sich mit gewaltigen Kräften schob.
Dabei verschwand zum größten Teil das Tethysmeer, jener Urozean, der zwischen
dem heutigen Mitteleuropa, Nordafrika und Indien lag, und hinterließ mächtige
Kalkablagerungen. Durch den Druck der Plattenkollision begannen sich die Alpen
aufzufalten. Phasen der Ruhe und der aktiven Gebirgsbildung wechselten einander
ab. Die beiden letzten Faltungen vor zwanzig und sechs Millionen Jahren hoben
die Alpen zu der uns bekannten Form an. Sogar die majestätischen, eisbedeckten
Flanken des 3.798 Meter hohen Großglockners sowie das Stilfser Joch in
Südtirol, der höchste befahrbare Gebirgspass dieses riesigen europäischen
Gebirges, bestehen aus ozeanischen Böden.
    Auch wenn der tektonische Antrieb schon lange erlahmt ist,
unterliegen die Alpen trotzdem einem permanenten Veränderungsprozess, bedingt
durch Erosion, Wasser, Stürme, Niederschläge und die sich immerzu verändernden
Gletscher mit ihren enormen Kräften. Grundvoraussetzung für die Entstehung
dieser »Ferner« oder »Kees«, wie sie je nach Region auch genannt werden, ist
Schnee.
    Jede Schneeflocke ist ein unverwechselbares Individuum, keine
gleicht der anderen. Lediglich eines haben sie gemeinsam: Ihre Eiskristalle
sind sechseckig. Erst, wenn sich Hunderte davon aneinandergeheftet haben, ist
eine Schneeflocke entstanden, die für ihren Weg von der Wolke zum Boden bis zu
fünf Stunden braucht.
    Schnee überlebt in tiefen Lagen meistens nur wenige Stunden oder
Tage. Im Gebirge hingegen kommen im Laufe eines Winters im dauernden Wechsel
von Niederschlägen, Tauwetter und Verwehungen Dutzende Meter von Schnee
zusammen. In extremen Jahren erreicht die Schneeschicht absolute Höhen von mehr
als zehn Metern. Und dieser Schnee ist die Nahrung der mächtigen Gletscher.
    Damit ein neuer Gletscher entstehen kann, muss so viel Neuschnee
fallen, dass die oberen Schneeschichten die unteren durch ihr Gewicht
zusammenpressen, dann beginnt die faszinierende Metamorphose von Schnee zu
Gletschereis. Über Tausende von Jahren haben die Gletscher in den Alpen eine
Mächtigkeit von bis zu vierhundert Metern entwickelt. Wände aus vierhundert
Metern reinem Eis, das in unwirklichen, kalten Grün- und Blautönen schimmern
kann.
    Jeder Gletscher ist unentwegt talwärts in Bewegung, unaufhaltsam
rutscht er nach unten. Je steiler der Hang ist, auf dem sich der Gletscher
bewegt, desto höher ist seine Geschwindigkeit. In den Alpen kann ein Gletscher
in einem Jahr hundertfünfzig Meter zurücklegen, im Himalaya das Zehnfache, in
Grönland sogar bis zu dreißig Kilometer.
    Viele Gletscher sind von gefährlichen Spalten durchsetzt. Doch es
gibt Wege, Pfade, die sich durch das Eis schlängeln, bis tief hinein in den
Gletscher.
    Inmitten des ewigen Eises verlieren Zeit und Raum an Bedeutung. Kein
Geräusch, nicht einmal Licht dringt hinab in die Abgründe des Eises. Dort ist
nichts. Nichts als Eis.

1
    Bozen, Sonntag, 26. September
    Was für ein erhebender Anblick! Diese wohltuende Wärme!
Ein herrlicher Kontrast zu dieser endlosen, zermürbenden Tristesse um ihn
herum. Das ganze Jahr Regen, es hörte gar nicht mehr auf. Diese widerliche
Kälte, die unaufhaltsam bis in den letzten Winkel des Körpers kroch und ihn
lähmte. Das hatte mit Klimaerwärmung nichts zu tun, im Gegenteil, man könnte
meinen, eine neue Eiszeit zöge herauf.
    Lange hatte er davon geträumt, sich aber nie getraut. Interessanterweise
wurde es viel leichter, wenn man es einmal getan hatte. Die erste Überwindung,
das war die größte Hürde. Wenn man sich noch ausmalte, was alles passieren
könnte, sich vorstellte, man würde gefasst. Das war vorbei. Er hatte längst
erkannt, wie simpel es war.
    Er konnte gar nicht sagen, was ihn eigentlich dazu trieb. Es war
keineswegs der Wunsch, zu zerstören oder zu verletzen. Auch nicht der Kick,
gejagt zu werden. Wahrscheinlich war es nichts als Faszination. Eine
Faszination, die er seit seiner Kindheit kannte. Wenn sie mit der Jugendgruppe
ein Lagerfeuer machten, wenn der Nachbar in seinem Garten Abfall verbrannte
oder wenn zu Ostern der riesige Holzhaufen auf dem Dorfanger in Flammen
aufging, dann war er jedes Mal wie hypnotisiert. Das Feuer zog ihn auf
geheimnisvolle Weise an, manchmal hatte er sogar den Eindruck, es würde mit ihm
sprechen, allein mit
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