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Eiszeit in Bozen

Eiszeit in Bozen

Titel: Eiszeit in Bozen
Autoren: Burkhard Rueth
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diesen
Beruf nicht geschaffen war. Er war zu weich, zu sensibel. Das körperliche Leid
anderer Menschen belastete ihn, verfolgte ihn manchmal bis in seine Träume.
    Einer seiner Professoren hatte ihm ein außergewöhnliches
Einfühlungsvermögen bescheinigt und ihm geraten, sich in Richtung Psychologie
oder Psychiatrie zu orientieren. Auch das erschien ihm als gute Möglichkeit,
seine Ideale zu verfolgen. Oftmals waren seelische Erkrankungen viel
schmerzhafter als die äußerlich sichtbaren oder im Blutbild nachweisbaren. Er
beendete sein Studium mit guten Noten, war davon überzeugt, dass ihm nun die
Welt offenstünde. Zweifelsohne musste er nur mit dem Finger schnippen, schon
hatte er eine interessante Position an einer renommierten Klinik.
    Er irrte sich. Zwei Jahre lang schrieb er vergeblich Bewerbungen,
und mit jeder Absage sank sein Selbstwertgefühl. Wurde er tatsächlich zu einem
Vorstellungsgespräch eingeladen, ließ ihn sein mangelndes Selbstbewusstsein
scheitern. Als er die Hoffnung bereits aufgegeben hatte, kam unverhofft ein
ehemaliger Kommilitone auf ihn zu und erzählte ihm, dass in der Forensischen
Psychiatrie jemand befristet zur Aushilfe gesucht werde. Alles andere als ein
Traumjob, aber immerhin ein Anfang. Er bekam die Stelle, ein Jahr später eine
Festanstellung, machte schließlich den Facharzt für Psychiatrie. Wenn er
geglaubt hatte, das sei endlich sein Sprungbrett für Höheres, hatte er sich
erneut geirrt.
    Sein ganzes Leben war er in derselben Abteilung geblieben und
niemals aufgestiegen. Noch immer war er Assistenzarzt. Seine Patienten waren
allesamt Kriminelle, genau die Klientel, mit der er eigentlich nichts zu tun
haben wollte. Helfen wollte er solchen Leuten schon gar nicht. Egal, ob krank
oder nicht, seiner Meinung nach gehörten Verbrecher in den Knast. Er fand es
einfach nicht richtig, Menschen zu helfen, die anderen Leid zufügten. Das war
ungerecht.
    Der ganze Frust, all die Jahre des Scheiterns, hatten aus einem
optimistischen, fröhlichen jungen Mann eine verhärmte Existenz gemacht. Längst
hatte er aufgehört, auf sich zu achten. Das ergraute Haar fiel ihm in
ungepflegten Locken ins Gesicht, das von nicht minder grauen Bartstoppeln
übersät war. Er war mager, wog nur gut sechzig Kilo bei einer Größe von einem
Meter fünfundachtzig. Schon lange hatte er keinen Appetit mehr, Essen war ein
notwendiges Übel. Weil er sich zurückgezogen hatte, war er einsam geworden,
eine zunehmende Menschenscheu war die Folge, alles andere als zuträglich für
seinen Beruf. Er hatte nie geheiratet, keine seiner Freundinnen hatte es länger
als ein halbes Jahr mit ihm ausgehalten. Sie ergriffen die Flucht vor seiner
negativen Aura, seiner Missmutigkeit, die jeden Menschen vertrieb, der ihn
längere Zeit um sich hatte. Seine letzte Beziehung lag nun fast vier Jahre
zurück. Er ließ sich auf nichts mehr ein, weil er den Gedanken nicht ertragen
konnte, dass er sowieso versagen würde. Freunde hatte er auch nicht. Nicht
einmal Bekannte. Und seine Kollegen machten einen großen Bogen um ihn. Seit dem
Tod seiner Eltern hatte er außer seinen Patienten keinerlei soziale Kontakte
mehr.
    Patienten? Nein, es war lediglich ein Patient.
    Seine Miene hellte sich ein wenig auf. Er freute sich auf sein fast
tägliches kleines Highlight, das ihn stets für kurze Zeit aus seiner Tristesse
befreite. Er zog seine Codekarte für den Hochsicherheitstrakt durch den Scanner
neben der Tür. Seit ungefähr einem Jahr hatte er diese »Sonderaufgabe«. Ein
besonders schwerer Fall, ein Mörder ohne erkennbare Anzeichen von Reue, der
längst die Grenzen zum Wahnsinn überschritten hatte. So zumindest hatte sein
Chef, der dem Mann eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert hatte, ihn
beschrieben. Weil Signor Eusebio Zabatino über ein so außergewöhnliches
Einfühlungsvermögen verfüge, wäre es für ihn zweifellos eine besondere
Herausforderung, sich, entbunden von allen anderen Aufgaben, ganz und gar
diesem Patienten zu widmen. Keine versteckte Degradierung, im Gegenteil: »Ihre
große Chance, Zabatino! Holen Sie den Kerl aus seiner schizophrenen Welt
zurück. Vielleicht ist sogar eine Beförderung drin.«
    Sein Chef war ein zynisches Arschloch. Er hasste ihn.
    Und er war ein Dilettant. »Der Kerl«, wie der Chef ihn nannte, war
nicht schizophren. Das war Zabatino schon nach wenigen Sitzungen klar geworden.
Dieser Mann wusste genau, was er tat und wovon er sprach. Er war auch nicht
wahnsinnig. Er gehörte nicht in
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