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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor
Autoren: Herbert Reinecker
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    Sie machten alle betroffene Gesichter, als ich ihnen sagte, daß ich wegfahren würde. Mein Prokurist, mein Teilhaber, meine Sekretärin, Fräulein Herbst. Sie versuchten es mir auszureden, vor allen Dingen, als ich ihnen weder einen Grund noch das Ziel meiner Reise, noch ihre Dauer sagen wollte. Mir war klar, daß sie mich seit Tagen sowohl mit Nachdenklichkeit als auch mit Besorgnis beobachtet hatten. Und was ihnen an mir aufgefallen war, müssen sie miteinander besprochen haben, denn sie sahen sich an, als bestünde vollkommenes Einvernehmen zwischen ihnen. Mein Teilhaber war ein älterer Herr, den ich im wesentlichen wegen seines würdigen Aussehens ins Geschäft genommen hatte. Aber er sah nicht nur würdig aus, er war es auch.
    Er schickte den Prokuristen hinaus, ebenso Fräulein Herbst, der es am schwersten fiel, denn ihrer Meinung nach war ich krank und somit pflegebedürftig. Dettmann sah mich an und hatte jenen nachdenklichen Gesichtsausdruck, der seine Würde am besten zur Geltung brachte.
    »Du willst nicht sagen, wohin du fährst?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte ich ziemlich ungeduldig, »ihr werdet von mir hören.«
    »Eine Privatsache?« fragte er und grub mit den Fingern in der Zigarrenkiste.
    »Ich habe im Moment keinerlei Privatsachen«, sagte ich, »ich wäre euch dankbar, wenn ihr mich abfahren ließet, ohne davon die geringste Notiz zu nehmen.«
    »Eine Frau?« wurde er konkreter.
    »Ich weiß«, sagte ich, »daß ich dir Anlaß genug gegeben habe, auf solche Vermutungen zu kommen, aber es handelt sich um keine Frau. Ich habe Lust, wegzufahren, das ist alles. Ich habe keine Lust, hierzubleiben, ich habe keine Lust, ein bekanntes Gesicht auch nur eine Stunde länger zu sehen, deins inbegriffen.«
    Er nickte, als bestätigte ich mit meinen Worten eine Diagnose, die er längst gestellt hatte.
    »Mein Lieber«, sagte er, »du kannst dich natürlich darauf verlassen, daß während deiner Abwesenheit alles vollkommen reibungslos weiterlaufen wird — «
    »Was mich nicht interessiert«, erklärte ich.
    Er öffnete ein wenig erstaunt die Augen. Sein Blick reizte mich, fortzusetzen: »Es interessiert mich nicht, was ihr mit der Firma macht. Ihr dürft sic zugrunde richten.«
    Es gelang mir nicht, ihn mehr zu erschrecken, als er mit seinem Lidblinzeln zeigte.
    »Es ist mir vollkommen gleichgültig«, sagte ich. »Und ich bin mir auch selber vollkommen gleichgültig.«
    »Seit wann geht das?« fragte er fast sachlich.
    Er hatte die Absicht, über meine ungewöhnliche seelische Verfassung zu reden wie über eine Krankheit, aber ich widerstand seinen hartnäckigen Versuchen. Ich haßte nichts mehr als die Neigung so vieler Leute, über sich selbst zu reden.
    »Du bist deinen Erfolg leid«, sagte Dettmann und sah mich mit jener wohlwollenden Anteilnahme an, die unserer Firma so viele gute Geschäftsabschlüsse beschert hatte — wie genau kannte ich diesen Blick, diese aufrichtige Hinwendung seines so guten und so langweiligen Gesichtes.
    »Du bist in der Lage vieler Leute, die mehr als ein Jahrzehnt geschuftet haben und die nun ganz oben sind. Sie fühlen sich auf einmal unausgefüllt und verfallen in Trübsinn. Und Trübsinn, wenn er solcher Herkunft ist, gehört vor einen Arzt. Geh mal zum Psychiater. Es sind kluge Burschen darunter, die werden dem Kind einen Namen geben, und du bist die Sache los.«
    »Es ist nichts, was vorübergeht«, sagte ich, und erst das ließ ihn wirklich erschrecken. Er wurde hilflos, er rief den Prokuristen wieder herein, und Fräulein Herbst kam mit einem Tablett. Sie kam immer mit einem Tablett, wenn sie ihre Fürsorge zum Ausdruck bringen wollte.
    Ich fuhr nach Hause und packte meinen Koffer. Das Telefon klingelte, aber ich berührte es nicht. Es klingelte mehrmals, aber ich hatte nichts damit zu tun, mit niemandem, wer immer auch Lust haben mochte, mit mir zu reden.
    Alles in mir mochte ziemlich in Unordnung sein, aber mein Verstand funktionierte normal. Ich sah mich selbst, meine Lage, mein Verhalten völlig klar, wenn auch ohne große Anteilnahme. Ohne jede Anteilnahme, was wohl das Wichtigste war. Ich hatte eine bestimmte Linie überschritten und sah mich selbst. Ich hatte mich nie selbst gesehen und stand nun neben mir wie ein Fremder. Ich sah den Mann, der ich war. Auf einmal, unvermittelt und mit großer Verwunderung. Man starrt sich an und stellt sachlich fest: Es ist nichts mit dir. Du hast auf deine Weise ein wenig Zeit verbracht. Du hast getan, was man von dir
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