Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
leeren Genusses. Dieser Faust aber, der am Ende skrupellos Untaten begeht, der sich, in blinder Selbsttäuschung, das Verdienst zuschreibt, einen riesigen Landgewinn für ein »freies Volk auf freiem Grund« geschaffen zu haben, während doch in Wirklichkeit die Lemuren im Hintergrund schon sein Grab schaufeln – dieser Faust kann »gerettet« werden – und zwar, in unserem Zusammenhang ist es wichtig, im Namen der Liebe: Von Liebe singt der Chor der Engel, der »Faustens Unsterbliches entführt«.
    Die Zeiten sind schärfer, gnadenloser, hoffnungsloser und liebeleerer geworden. Ein »redlich Hineinpassen« ist der Kunst nicht mehr gegeben. Leverkühn versucht, das Uralte, Archaische, Nichtzivilisierte zu verknüpfen mit der Moderne: zu einem neuen Humanum. Es kann ihm nicht gelingen. »Humanismus, aus dem Barbarei hervorging«, heißt es schon im Zauberberg , und im Faustus : »Daß alles zu schwer geworden ist und Gottes armer Mensch nicht mehr aus und ein weiß in seiner Not, das ist wohl Schuld der Zeit.« Er aber, Leverkühn, hat »den Teufel zu Gast« geladen, das Gift der Hetera Esmeralda kreist in seinem Blut. »Messerschmerzen« hat er zu leiden wie die kleine Seejungfrau des Hans Christian Andersen bei jedem Schritt, wenn sie auf Menschenbeinen läuft, um der Liebe willen, die er nicht erfahren darf.
    Was ihm bleibt, ist die Klage. Und die Zurücknahme: »Es soll nicht sein.« »Das Gute und Edle, was man das Menschliche nennt, obwohl es gut ist und edel. … Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen.« – »Was willst du zurücknehmen?« – »Die Neunte Symphonie.« In »Dr. Fausti Weheklag«, diesem »Lied an die Trauer«, ist es zurückgenommen, das Lied an die Freude: »Ja, wer auch nur eine Seele sein nennt auf dem Erdenrund! …« Es gibt sie nicht, diese Seele. Für den Künstler Adrian Leverkühn soll es sie nicht geben: »Da seht ihr, daß ich verdammt bin, und ist kein Erbarmen für mich.«
    Manchmal will mir scheinen, das Verdikt: Du sollst nicht lie
ben! sei nicht über einen einzelnen Menschen, sondern über eine ganze heraufziehende Epoche ausgesprochen, deren Liebesfähigkeit verkümmert, der Liebeserfüllung versagt ist und deren unterdrückte Sehnsucht in Massenexzessen wie der »Love-Parade« zum Ausbruch kommt.
    Wie Sie wissen, verläßt Thomas Mann 1952 die USA , voll tiefer Sorge um die Zukunft ihrer Demokratie, die unter den Folgen des kalten Krieges leidet und schwer angeschlagen ist.
    Eine erschütternde Eintragung findet sich am 20. Dezember 1952 in seinem Schweizer Tagebuch: »Mein Abnehmen, das Alter, zeigt sich darin, daß die Liebe von mir gewichen scheint und ich seit langem kein Menschenantlitz mehr sah, um das ich trauern könnte.« »And my ending is despair!« Diesen Klageruf des Prospero zitiert er wieder und wieder.
    Worum hätten wir tiefer zu trauern als um den Verlust der Liebe? Wo aber Trauer ist, ist Hoffnung. Ich erlaube mir, noch einmal einen Zeitsprung zu machen, zurück diesmal in das Jahr 1914, als der Zauberberg endet, mit dem Beginn des ersten großen Krieges, in den Hans Castorp, »des Lebens treuherziges Sorgenkind«, sofort auf das Übelste hineingerissen wird. Seine »Aussichten sind schlecht«. Sein Autor aber beendet dieses Buch mit einer Frage, die, wie ich glaube, die Zeit, auch unser Atomzeitalter, überdauert: »Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?«
     
    2010

Begegnungen mit Uwe Johnson

    Ich stelle mir vor, Uwe Johnson, der Mann, an den wir heute hier erinnern wollen, wäre unter uns. Er säße zum Beispiel, wie es ihm zukäme, in der ersten Reihe unserer Versammlung und wunderte sich, daß jemand und wer in seinem Namen einen Preis bekommen soll. Das wäre doch möglich. Das wäre doch normal, er war ja fünf Jahre jünger als ich, er könnte doch leben. Es müssen besondere Begleitumstände gewesen sein, die ihn mit knapp fünfzig Jahren sterben ließen.
    Ich versuche, vorsichtig, einige dieser Umstände anzudeuten, indem ich schildere, wie ich ihn erlebt habe.
    Soll ich sein Leben tragisch nennen? Ich halte das Wort zurück. Eine Versuchung, es zu verwenden, geht von dem Land aus, in dem wir uns befinden, in dem manche von uns leben, in dem er nicht bleiben konnte und nach dem er sich immer gesehnt hat. Mecklenburg. Es war Johnsons Land. »Aber wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht umwaldete
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher