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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe
Autoren: Christa Wolf
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Tagesgeschehens auf seine Schreibarbeit: »Im Ohr die hysterischen Deklamationen der deutschen Ansager über den ›heiligen Freiheitskampf gegen die seelenlose Masse‹ schrieb ich die Seiten über die Hölle, die wohl
die eindringlichste Episode des Kapitels sind«, wobei er für die Hölle das Stichwort »Gestapokeller« im Kopf hat. Und immer dringlicher: »Kriegsmeldungen des Sinnes, daß es mit dem Reich zu Ende geht.« Er kennzeichnet den Abgrund von Schande, in den die Deutschen nun blicken müssen, den Abscheu und das Entsetzen, mit denen die Welt auf Deutschland blickt. Überlegungen zur Zukunft Deutschlands, heftig umstritten in den verschiedenen Emigrantengruppen. Thomas Mann gehört, schwer kritisiert von Brecht, zu denen, die es für unerläßlich halten, Deutschland zu »züchtigen«. »Ist es krankhafte Zerknirschung«, schreibt Zeitblom, »die Frage sich vorzulegen, wie überhaupt noch in Zukunft ›Deutschland‹ in irgendeiner seiner Erscheinungen es sich soll herausnehmen dürfen, in menschlichen Angelegenheiten den Mund aufzutun?« Das Jahr 1945, schreibt Thomas Mann, habe ihm »einen Hagel von Erschütterungen« gebracht. Und später, schon nach der Katastrophe des Adrian Leverkühn, läßt er dessen Biographen schreiben: »Deutschland selbst, das unselige, ist mir fremd, wildfremd geworden« … Thomas Mann ist nicht nach Deutschland zurückgegangen.
    Die letzten Seiten des Buches lese ich zu Anfang des Jahres 1993, unter Palmen im warmen Kalifornien. Das wüste Untergangsszenarium, das Serenus Zeitblom nun schildert (das sein Autor nicht gesehen haben kann), hat sich mir eingebrannt, Erinnerungsbilder begleiten die Lektüre. Und, als wäre das nicht genug: Wieder einmal ist ein deutscher Teilstaat, derjenige, in dem ich gelebt habe, dabei, unterzugehen, wenn auch unter nicht vergleichbaren Bedingungen; doch kann ich mich der Frage nicht entziehen, inwiefern und inwieweit dieser frühere Untergang mit dem jetzigen zu tun hat und inwieweit das Trauma jener frühen Jahre das Erleben und Handeln meiner Generation in der späteren Lebenszeit mit geprägt hat.
    Ein Erinnerungsstrom überschwemmt mich, eine Art Phantomschmerz breitet sich aus. Abstoßende Meldungen in den Zeitungen, die mich erreichen. Und wieder diese prüfenden
Blicke: Die Amerikaner, die ich treffe, stellen mir irgendwann die unvermeidliche Frage: What about Germany? Ja: Was ist los mit Deutschland, wo Asylbewerberheime brennen, ein Präsident bei einer Friedenskundgebung mit Eiern beworfen wird? Ich muß plötzlich für das ganze Land sprechen, in dem ich ja nicht gelebt habe, und ich sehe, daß sie mir nicht glauben, wenn ich sage: Nein. Es ist nicht dasselbe wie damals und wird nie dasselbe werden. Wir werden verhindern, daß Demagogen nennenswerte Unterstützung bei der Mehrheit bekommen. – Aber wer ist »wir«? –
    Zeit, von seinem genialen Werk durchglühte, »illuminierte« Zeit verspricht der Teufel dem Adrian Leverkühn, volle vierundzwanzig Jahre. Wenn er nur eine Kleinigkeit beachtet, eine nebensächliche Klausel: »Wenn du nur absagst allen, die da leben.« Leverkühn: »(äußerst kalt angeweht): Wie? Das ist neu. Was will die Klausel sagen?« Der Teufel: »Uns bist du, feine, erschaffene Creatur, versprochen und verlobt. Du darfst nicht lieben. … Liebe ist dir verboten, insofern sie wärmt. Dein Leben soll kalt sein – darum darfst du keinen Menschen lieben.«
    Wir wissen es: Leverkühn in seiner Einsamkeit auf dem Hof der Schweigestills ringt sich geniale, neuartige, nur wenigen eingängige Werke ab. Und, soll man sagen: dafür muß er sein Liebstes sterben sehen, den kleinen elfenhaften Schwestersohn Echo. Der Teufel holt ihn, so ist der Vertrag. Dieses Kind hat es wirklich gegeben, Frido, Thomas Manns Enkel, den er zärtlich und innig liebt. Wie er sein Sterben beschreiben konnte, habe ich nie verstanden. »Mit Leide« – nun ja, mit Leide. Einen erschütternderen Beweis für die Wirkungsmacht des Teufelspaktes hätte er nicht finden können, das muß man dem Autor zugestehen. Und doch: Heißt dies nicht, das Werk über das Leben stellen? Es weht mich jedesmal kalt an, wenn ich im Buch an diese Stelle komme, und ich beeile mich, sie zu überschlagen. 
    Die Zeiten sind härter geworden, seit der andere, Größere, Goethe, den Thomas Mann sein Leben lang schmerzlich verehrt, seinen Faust schuf. Der sollte dem Teufel verfallen sein,
wenn er sich »aufs Faulbett« legte, Genüge fände am Augenblick des
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