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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe
Autoren: Christa Wolf
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mir stellt. Und ich darf nicht allzusehr dein, nie ganz in dir glücklich sein, um dessentwillen, was meine Sendung ist.«
    Den Doktor Faustus von Thomas Mann habe ich zum ersten Mal früh gelesen, ich könnte nicht mehr genau sagen, wann. Aber er gehörte zu den Büchern, die mir halfen, in das Wesen, vielmehr Unwesen des deutschen Faschismus einzudringen und mich, die ich zu der Generation gehörte, die als Kinder und Jugendliche nicht einmal den Namen eines Thomas Mann kennen sollten, gegen dieses Unwesen zu immunisieren. Benennen hätte ich diese Wirkung damals wohl nicht können, aber ich spürte, »welche Unmenschlichkeit das Buch des Endes kalt durchweht«. Das nicht! dachte ich. So nicht.
    Die Jüngeren mögen es sich nicht vorstellen können, »Gesittung«, »Humanität« waren Wörter, die wir mit sechzehn, siebzehn Jahren zum ersten Mal im positiven Sinne hörten. Die Geschichte vom Verhängnis dieses deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn hat mich erschüttert. Konnte ich mir verhehlen, welch anderem Teufelspakt wir beinahe verfallen wären? Ich las das Buch wieder. Es wuchs mit meinen Einsichten. Meine Einsichten wuchsen mit diesem Buch.
    Eine merkwürdige Fügung in meinem Leben erlaubte, nein: zwang mir noch einmal eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Autor auf, mit diesem Buch, mit seiner Entstehungsgeschichte, mit dem gefahrvollen, turbulenten Zeitgeschehen, in das es gestellt war, und mit der innigsten Verquickung all dieser Faktoren, die Gehalt und Gestalt des Werkes bestimmte.
1992/93 lebte ich für ein Dreivierteljahr ganz nah bei dem Ort, an dem der Doktor Faustus entstand: »Pacif. Palis.«, das heißt: »Pacific Palisades« steht über den Tagebucheintragungen Thomas Manns jener Jahre zwischen Mai 1943 und Januar 1947, der Entstehungszeit dieses großen Romans. Meine Adresse war »Santa Monica«, in enger Nachbarschaft also zu 1550 San Remo Drive, wo die Manns sich ein Haus hatten bauen lassen, in dem sie ab Februar 1942 wohnten. Dort bin ich oft gewesen. Vom Haus sieht man nicht viel, hochgewachsene Hecken verbergen es dem Blick. Keine Tafel erinnert an seinen berühmten ersten Bewohner (das habe ich auch an den anderen Wohnungen und Häusern der damaligen Emigranten festgestellt: Ihrer wird nicht gedacht). Ich habe vor dem Eingang des Grundstücks gestanden und meine Phantasie spielen lassen, bin auch den Weg nachgegangen, den Thomas Mann nach seiner Morgenarbeit oft genommen hat, den Amalfi Drive hinunter in Richtung Küste, bis zum Hotel Miramar an der Pacific Promenade, wo er wohl einen Wermut trank und seine Frau Katia ihn mit dem Auto abholte.
    In diesem Hotel habe ich bei einem Frühstück mit einem Freund, der aus Europa herübergekommen war, ausführlich über die Beschaffenheit der deutschen intellektuellen Emigration in Kalifornien gesprochen, auf deren Spuren ich mich fasziniert bewegte. Ich liebe es, die Orte aufzusuchen, an denen Schriftsteller, Künstler gewohnt und gearbeitet haben. In Leningrad hat uns vor vielen Jahren der Urenkel Dostojewskis zu dem Haus geführt, in dem Raskolnikow die Wucherin erschlug. In Moskau waren wir in der Wohnung Majakowskis. In London sind wir durch das Bloomsbury der Virginia Woolf gegangen. In Marseille habe ich das Hotel und das Café gefunden, in denen die Figuren von Anna Seghers' Transit sich bewegen. In Prag sahen wir Kafkas Umfeld und die Kneipen, in denen der gute Soldat Schwejk zu Hause war. In Rom standen wir vor dem Haus, in dem die Bachmann ihr Franca -Fragment geschrieben hat.
    Und nun also Kalifornien, Los Angeles, in dem in den dreißiger, vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sich Größen aus Literatur, Theater, Film versammelten, die aus Deutschland vertrieben waren, so daß es auch das »Weimar unter Palmen« genannt wurde. Ein alter Schauspieler, der an der Galilei -Aufführung von Brecht mitgewirkt hatte, hat sich während einer Party im Hause Schönberg bei mir bedankt, daß wir ihnen in den dreißiger Jahren »alle diese wunderbaren Menschen« herübergeschickt hätten. O madam, what a seed! rief er aus und zählte Namen auf: Brecht, Thomas und Heinrich Mann, Marta und Lion Feuchtwanger, Hanns Eisler, Bruno Frank, Franz Werfel, Berthold und Salka Viertel, Adorno. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt die Wohnstätten aller dieser Emigranten schon aufgesucht.
    Nach einem original Wiener Essen mit Fleckerlsuppe, Tafelspitz und Sachertorte, das die Schwiegertochter von Arnold Schönberg uns bereitet hatte, brachte ich die
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