Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis Zum Letzten Tropfen

Bis Zum Letzten Tropfen

Titel: Bis Zum Letzten Tropfen
Autoren: Charlie Huston
Vom Netzwerk:
Sie sind reif.
    Das ist mein einziger Gedanke, während ich sie beobachte.
    Die Menge strömt aus dem Stadion, Zehntausende verstopfen die River Avenue und den Grand Concourse und die Straße unter der Haltestelle der Linie 4, auf der die Züge kreischend ein- und ausfahren. Die Leute quetschen sich wie Sardinen in die Waggons, stolpern die Treppen hinauf, drängen sich in die Tunnel und in den Stan the Man’s Fanartikelladen. Der Verkehr in nördlicher Richtung zum Cross Bronx Expressway und nach Triborough kommt zum Erliegen, weil die Menschen die Straßen verstopfen. Sie sind betrunken oder auf dem besten Weg dazu, entweder überglücklich über einen Sieg oder stinksauer über eine Niederlage. Tausende in blau-weißen Nadelstreifen-Baseballklamotten.
    Alle bis zum Platzen gefüllt.
    Jeder von ihnen würde reichen, um einen von uns armen Teufeln wochenlang auf den Beinen zu halten. Wahrscheinlich sogar monatelang, eine gewisse Erfahrung und Selbstdisziplin vorausgesetzt. Viele von ihnen kennen sich in der South Bronx nicht aus, haben außer dem Weg von der U-Bahn-Haltestelle oder dem Parkplatz zum Stadion noch nichts gesehen. Und jeder Einzelne ist bis zu seinem pumpenden Herzen randvoll mit Blut.
    Wen wundert’s also, dass es nach jedem gottverdammten Spiel Ärger gibt?
    Klar, ist schließlich kein großes Geheimnis. Deshalb sind auch so viele Cops unterwegs. Die Cops regeln den Verkehr, so gut es eben geht. Sie halten die fanatischen Yankees davon ab, denjenigen Sox-Fans die Ohren abzubeißen, die dumm genug waren, das Spiel ihres siegreichen Teams bis zum Ende anzusehen. Sie haben ein Auge auf Taschendiebe und passen auf, dass die Besoffenen nicht unter die Busse geraten.
    Würde mich dieser ganze Scheiß auch nur im Geringsten interessieren, würde ich auf der Stelle hingehen, einem der Beamten auf den Rücken klopfen und ihm ein Bier ausgeben.
    Doch das Ganze geht mir, gelinde gesagt, am Arsch vorbei.
    Was mir Sorgen bereitet, sind die Wilderer, die halbverhungerten Eindringlinge, die Gierigen und Schwachen, die Kranken, Verirrten und die, die einfach nur bescheuert sind. Die beschäftigen mich so sehr, dass ich versuche, mich nach jedem Spiel hier zu zeigen. Nur um einige Dinge klarzustellen.
    Zum Beispiel, dass sie besser aus der Gegend hier verschwinden, bevor ich mich eines Nachts in einer dunklen Seitenstraße an sie ranschleiche und ihnen zwei Kugeln in ihre bescheuerte Rübe jage, bevor sie überhaupt wissen, wie ihnen geschieht.
    Die Schwachen und Kranken haben hier nichts verloren. Nicht, solange ich hier oben gestrandet bin.
    Hier oben.
    Wenn man, lange nachdem das Spiel vorbei ist, auf dem Bahnsteig der Linie 4 steht und Richtung Süden blickt, kann man sie sehen. Die Stadt. Gleich hinter dem Fluss.
    Aber für mich ist sie so weit entfernt wie Scheißchina.
    Wenn man dann runter zur Straße geht, an den eisernen Treppengeländern und Drehkreuzen vorbei, unter den Stahlpfeilern der Haltestellen hindurch, kommt man sich vor, als würde man in einem Käfig hin und her tigern.
    Aber es handelt sich um meinen Käfig.
    Und niemand scheißt in meinen Käfig.
    Deshalb sehe ich mich nach jedem Spiel hier um. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich würde vermutlich auch ohne diese praktischen Überlegungen hier auftauchen. Denn nach einem Spiel ist so ziemlich der einzige Zeitpunkt, an dem ich mich auf der River Avenue blicken lassen kann, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.
    Ein weißes Gesicht in der South Bronx bei Nacht, das fällt zwangsläufig auf. Tagsüber sind hier zwar eine Menge Weiße unterwegs, Cops, Anwälte und gelegentlich sogar jemand von der Anklägerseite. Aber sobald es dunkel wird, machen sie sich auf den Heimweg. Und sie wohnen alle in sicherer Entfernung von der 161st Street und dem Concourse, also in Jersey, Queens oder allerhöchstens Riverdale.
    Am helllichten Tag könnte ich mich also ohne weiteres unters Volk mischen. Ich müsste mir nur was zum Mitnehmen von der Havanna Sandwich Queen holen und mich auf eine der Bänke neben der Statue von Moses setzen, der gerade die Zehn Gebote den Berg hinunterträgt. Ein Blick auf meine Statur, mein Gesicht, meine schwarzen Stiefel, die schwarze Hose, die ich trotz des Sommertages trage, und die Lederjacke, die auf der warmen Steinbank liegt, und die Leute würden denken: undercover . Sie würden mich für einen Cop halten, der hier oben eine Aussage macht.
    Aber das würde natürlich voraussetzen, dass ich am helllichten Tag draußen unterwegs
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher