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Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans

Titel: Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans
Autoren: Adolf Muschg
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  Japanische Kinder spielen das Spiel Mikado wie überall, aber bei diesem Namen dürfen sie es nicht nennen. Es gibt eine Sprache des Tenno, die spricht er allein, und wäre den Japanern eine solche Deutung erlaubt, sie würden sie als Kindersprache erkennen.
      Auch für Muschg war das Japanische eine Sprache seiner Kindheit, in der alles möglich schien. Kein Wunder, daß er nach dem Studium auszog, sie besser zu verstehen. Und auch wenn er sie nie recht sprechen lernte: die Sprache des Schreibens hätte er ohne Japan nicht gefunden.
      Er hat sie so wenig ausgelernt wie das Verständnis jener insularen Welt am anderen Ende der Landmasse, die Europa mit Asien zusammen bildet, als entgegengesetztes Vorgebirge.
      In den Annäherungen dieses Buches bleibt Japan das Bild der Fremde, die im Kern der eigenen Welt zu entdecken ist. Muschg versucht sich zu erklären, warum es nicht damit getan war, diese Stelle zu besetzen oder gar zu erobern. Sie bleibt frei. Das eigene Mißverständnis davon abzuziehen, Stück für Stück, wurde das wirkliche Abenteuer.
      Ein Vierteljahrtausend lang, in der Zeit der Abschließung, war das Wissen über Japan künstlich rationiert, zuerst für die Japaner selbst. Es war die Pionierzeit der Doppelagenten auf beiden Seiten; sie waren unentbehrlich und riskierten ihren Kopf dabei.
      Die sieben Prosastücke und Reden dieses Bandes sind Berichte eines Doppelagenten, der dabei nichts weiter riskierte als seine Vorurteile, Einbildungen und Illusionen, aber auch seine europäischen Maßstäbe und seine private Sicherheit. Das kann eine literarische Erfahrung sein; hier ist es auch eine zwischen zwei Kulturen.
      So liest Muschg in einer Gesellschaft, die als geschlossene Welt gilt, das Zeichen einer offenen, in der nicht alles möglich ist, aber mehr, als er sich in der Kindheit träumen ließ.
    Adolf Muschg Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat

    Sieben Gesichter Japans

    Für Iso Camartin

    Suhrkamp Verlag
    Erste Auflage 1995
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Alle Rechte vorbehalten
Druck: Wagner GmbH, Nördlingen
Printed in Germany
ISBN 3-518-40741-4

    Der Wasserfall von Nikko

      Auf einem der malträtierten Papierchen, die ich, im ersten Schulalter, meine »Briefmarkensammlung« nannte, ließ sich ein Wasserfall im kreidigen Moosgrün eher erraten als erkennen. Die fernöstliche Zeichenschrift, das kreisrunde Emblem, das wie eine halbierte Zitrone aussah, deutete auf Japan, das, wie ich aus der Zeitung wußte, inzwischen auch halb China verschlungen hatte. Dies war also ein japanischer Wasserfall.
      Es gab natürlich niemanden, der einem Siebenjährigen mitten im Krieg aus Japan geschrieben hätte. Die Marke stammte aus einer »100 Verschiedene / Ganze Welt«-Packung, die ich mir zu Weihnachten gewünscht hatte und die den kleinen Vorrat, der aus ein paar europäischen Nachbarländern zusammengekommen war, märchenhaft vermehrte. Denn das Wunder erübrigte die Mühe, die es mich sonst gekostet hatte, die bunten Plätzchen im Wasserbad von den Papierunterlagen zu lösen und dann zwischen Löschpapier unter Brehms Tierleben glattzupressen. So säuberlich wurden sie dann doch nie, wie sie jetzt auf einmal, gestempelt und doch unberührt, aus der transparenten, kaum sichtbar geschwellten Tüte rutschten. Hinter den zum Bilderbogen komponierten prächtigen Blickfängen die unscheinbaren Dutzendwerte, unter die sich aber, wer weiß, eine Rarität verirrt haben konnte –
      Und so suchte ich in einem tausend Seiten starken Katalog (»Welt«), den mir ein Nachbar vor seinem Wegzug vermacht hatte, Stück um Stück heraus, verglich die verkleinerten, oft von Stempelschwärze nahezu unkenntlich gemachten Abbilder mit den Originalen in meiner Hand und konnte, im Lauf eines damals noch unerschöpflichen Sonntags, die meisten identifizieren. Der Wert, den der Katalog zu jeder Marke angab, bewegte sich regelmäßig zwischen einem und sechs Rappen, die Fehlfarbe, die mich reich gemacht hätte, fand sich nicht. Immerhin blieb mir der Trost, daß die zwei Franken, die meine Mutter für die »Ganze Welt« angelegt hatte, deutlich überschritten waren. Ich hatte ein Geschäft gemacht und fragte mich, wie die kleine Briefmarkenstube an der Bahnhofstraße überleben könne, wenn sie ihre Schätze halb verschenkt. Was ich besaß, war mir in jedem Falle teuer über jede Erwartung, zum Beispiel: dieser japanische Wasserfall in kreidigem Licht (malt ihn nur meine Erinnerung grün?), denn
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