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Dem Himmel entgegen

Dem Himmel entgegen

Titel: Dem Himmel entgegen
Autoren: Mary Monroe
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diesem kurzen Moment vor dem Flug versuchte Harris, seinen Geist mit dem des Vogels verschmelzen zu lassen. Er hatte Geschichten von Schamanen gelesen, die diese alte Kunst beherrschten, Mythen von Indianern, deren Geist mit den Adlern aufstieg – Legenden, die beiläufig oder im Scherz erzählt wurden. Noch nie hatte er seine Gedanken mit jemand anderem geteilt, aber in seinem tiefsten Inneren glaubte er, dass in diesen Märchen und Mythen auch ein Funken Wahrheit steckte. Sicher gab es Menschen, die auf einer besonderen, einer Gefühlsebene mit den Vögeln kommunizierten. Er wusste es. Er hatte es gesehen.
    Und er litt darunter, keiner von diesen Menschen zu sein. Obwohl er sehr talentiert war, fehlte ihm dieser Instinkt – diese seltene Gabe –, Verbindung aufzunehmen und seinen Geist mit den Tieren aufsteigen zu lassen.
    Im Augenblick des Losfliegens bekam Harris eine Ahnung dieser geistigen Verbindung, dieses Geschenks. Wenn der Vogel die Schwingen ausstreckte und sich in die Lüfte erhob und Harris die Geräusche der Flügel und den Luftzug auf seinen Wangen wahrnahm, wusste er für einen Moment, wie es sein musste, zu fliegen. Dann konnte er sich vorstellen, aufzusteigen und die Luft an seinem Körper zu fühlen.
    “Fertig?” fragte Maggie.
    Der Bussard spürte die bevorstehende Freiheit. Der Griff seiner Klauen um Harris’ Arm wurde fester. Eine Windböe stieß unter seine Federn, doch er zuckte nicht. Die Augen des Tieres waren geradeaus gerichtet, und sein Atem war in der kalten Morgenluft sichtbar. Der Augenblick war gekommen.
    “Okay, meine Schönheit”, sagte Harris sanft zu dem Vogel. “Jetzt schicken wir dich nach Hause.”
    Er hob den Arm und öffnete gleichzeitig seine Hand. Der Bussard ließ los, schlug ein paar Mal mit den Flügeln und erhob sich in die Luft. Harris seufzte tief, als der Vogel hoch über ihm schwebte.
    Der Rotschwanzbussard stieg höher und immer höher. Harris ließ das Tier nicht aus den Augen, verfolgte den Flug und schätzte die Stärke des Vogels ein. Er achtete auf die Gleichmäßigkeit der Bewegungen, um ausschließen zu können, dass der gebrochene Flügel doch noch nicht vollständig verheilt war. Das Überleben in der Wildnis war hart, und ein Raubvogel musste unbedingt erfolgreich bei der Jagd sein, wenn er eine Chance haben wollte. Dieser Vogel jedoch zeigte keine Schwächen mehr, keine vorsichtige Zurückhaltung oder Schonung, und Harris empfand tiefe Freude darüber, dass die Arbeit der Tierauffangstation einmal mehr erfolgreich verlaufen war.
    Es war gelungen, auch diesen Vogel, Nummer 1985, zu retten und auszuwildern.
    “Wir sollen hier nicht jagen.”
    Brady Simmons deutete mit dem Lauf seines 22er-Kaliber-Gewehrs auf ein Schild mit der Aufschrift “Jagen verboten”, das an einer alten, knorrigen Eiche angebracht war. “Steht doch so auf dem Schild, stimmt’s?” sagte er und achtete dabei darauf, es mehr wie eine Frage und nicht wie eine lakonische Feststellung klingen zu lassen.
    Sein Vater rieb sich das stoppelige Kinn und erwiderte: “Ich seh kein Schild.”
    “Billy Trumplins Dad sagt, dass wir mächtigen Ärger kriegen können, wenn sie uns hier erwischen. Vor allem, wenn wir Vögel jagen. Die Jagdsaison ist vorbei.”
    Roy Simmons drehte langsam den Kopf, verengte die Augen und sah seinen ältesten Sohn scharf an. Seine Stimme klang zwar leise, aber dennoch gefährlich. “Willst du mir sagen, was ich zu tun habe, Junge?” knurrte er.
    Brady wich zurück. “N… nein, Sir.”
    Sein Vater bemerkte den Respekt seines Sohnes. Seine Augen blitzten. “Unsere Familie jagt hier schon seit Menschengedenken. Es ist nicht falsch, sich ein bisschen von dem zu nehmen, was da ist.” Er schulterte sein Gewehr. “Außerdem sind wir nicht zum Spaß hier, sondern um was zu essen auf den Tisch zu bringen. Diese Baumfreunde, die mir das verbieten wollen, sollen ruhig herkommen. Denen werd ich’s schon zeigen.”
    Brady nickte kurz und blickte auf die geballten Hände seines Vaters. Er schwieg. Die Whiskeyfahne seines Vaters erfüllte ihn mit Angst und Verachtung.
    Roy Simmons griff nach dem Schild, riss es vom Baum und schleuderte es auf den Boden.
    Unbewegt beobachtete Brady, wie sein Vater mit der schlammig verkrusteten Sohle seines Schuhs auf das Schild trat.
Was für ein Idiot
, dachte er bei sich. Er war es leid, seinen Vater darüber schimpfen zu hören, dass die Regierung Land vom Volk
gestohlen
hätte. Wie konnte den Menschen überhaupt etwas
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