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Ich folge deinem Schatten

Ich folge deinem Schatten

Titel: Ich folge deinem Schatten
Autoren: Mary Higgins Clark
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1
    Pater Aiden O ’ Brien nahm in der Unterkirche des Gotteshauses des heiligen Franziskus von Assisi an der West Thirty-first Street in Manhattan die Beichte ab. Der achtundsiebzigjährige Franziskanermönch hatte nichts gegen die Neuregelung, derzufolge das Beichtkind nicht mehr, vom Priester durch ein Gitter getrennt, auf der harten Holzbank des Beichtstuhls knien musste, sondern ihm an einem Tisch im Versöhnungsraum von Angesicht zu Angesicht gegenübersaß.
    Zweifel beschlichen ihn nur dann, wenn er das Gefühl hatte, der Büßer könnte sich davon abhalten lassen, all das zu sagen, was er möglicherweise in der anonymen Dunkelheit des Beichtstuhls offenbart hätte.
    Genau dieses Gefühl hatte er an diesem kühlen, windigen Märznachmittag.
    In der ersten Stunde waren nur zwei Frauen erschienen, zwei treue Gemeindemitglieder, beide Mitte achtzig, deren Sünden, sollten sie jemals welche begangen haben, lange zurücklagen. Heute hatte eine von ihnen gebeichtet, im Alter von acht Jahren ihre Mutter angelogen zu haben. Sie hatte zwei Kuchenstücke gegessen und ihrem Bruder die Schuld an dem fehlenden zweiten Stück gegeben.
    Pater Aiden betete den Rosenkranz. Es war bald an der Zeit, den Raum zu verlassen, doch plötzlich ging die Tür auf, und eine schlanke Frau Anfang dreißig trat ein. Langsam ging sie zum Stuhl ihm gegenüber und ließ sich zögernd darauf nieder. Ihr kastanienbraunes Haar fiel ihr offen über die Schultern, das mit einem Pelzkragen besetzte Kostüm dürfte sehr teuer gewesen sein, genau wie ihre hochhackigen Lederstiefel. An Schmuck trug sie lediglich silberne Ohrringe.
    Mit ernster Miene wartete Pater Aiden. Da die junge Frau beharrlich schwieg, sagte er ermutigend: »Wie kann ich Ihnen helfen?«
    »Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.« Sie sprach leise, in einem angenehmen Tonfall ohne jeglichen Dialekt.
    »Es gibt nichts, was Sie mir sagen könnten, das ich nicht schon einmal gehört hätte«, sagte Pater Aiden mit sanfter Stimme.
    »Ich …« Die Frau hielt kurz inne, aber dann sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. »Ich weiß, dass jemand einen Mord plant, und ich kann nichts dagegen tun.«
    Mit schreckgeweiteten Augen sah sie ihn an, schlug die Hand vor den Mund und erhob sich abrupt. »Ich hätte nie hierherkommen sollen«, flüsterte sie und fügte mit zitternder Stimme hinzu: »Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Ich bekenne, an einem Verbrechen und an einem Mord mitzuwirken, der sehr bald geschehen wird. Wahrscheinlich werden Sie davon in der Zeitung lesen. Ich will das alles nicht, aber es ist zu spät, um daran noch etwas zu ändern.«
    Sie drehte sich um, und nach fünf Schritten war sie an der Tür.
    »Warten Sie«, rief Pater Aiden und mühte sich von seinem Stuhl hoch. »Reden Sie mit mir. Ich kann Ihnen helfen.«
    Aber sie war fort.
    War die Frau geisteskrank?, überlegte Pater Aiden. Hatte sie das wirklich ernst gemeint? Und wenn ja, was konnte er dann tun?
    Wenn sie die Wahrheit gesagt hat, dachte er und ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder, dann sind mir die Hände gebunden. Ich weiß nicht, wer sie ist oder wo sie wohnt. Ich kann nur beten, dass sie nicht ganz bei Verstand ist und sich alles nur eingebildet hat. Trifft das aber nicht zu, dann ist sie klug genug, um zu wissen, dass ich dem Beichtgeheimnis verpflichtet bin. Vielleicht war sie früher praktizierende Katholikin. ›Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt‹, das sind genau die Worte, mit denen die Beichte eingeleitet wird.
    Lange saß er so da. Nach der überstürzten Flucht der Frau war das grüne Licht über der Tür zum Versöhnungsraum automatisch angegangen. Jeder, der draußen wartete, wusste somit, dass er nun eintreten konnte. Inständig betete er, die junge Frau möge zurückkehren. Aber sie kam nicht wieder.
    Um achtzehn Uhr wäre seine Zeit im Versöhnungsraum eigentlich vorbei gewesen. Um zwanzig nach sechs gab er schließlich jegliche Hoffnung auf, dass sie noch einmal auftauchen würde. Er spürte das Gewicht seiner Jahre und die Bürde, die er als Beichtvater zu tragen hatte, als er sich mit beiden Händen an den Stuhllehnen aufstützte, sich langsam erhob und unter den stechenden Schmerzen in seinen arthritischen Knien zusammenzuckte. Kopfschüttelnd ging er zur Tür und blieb kurz vor dem Stuhl stehen, auf dem die junge Frau gesessen hatte.
    Sie war nicht verrückt, dachte er betrübt. Falls sie wirklich von einem bald bevorstehenden Mord weiß, kann ich nur
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