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Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)

Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)

Titel: Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
Autoren: Horst Bosetzky
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EINS
Freitag, 11. Juni 1910
    IRGENDWIE HATTE HERMANN KAPPE heute Abend ein komisches Gefühl - als wenn der Tod auf ihn wartete. Sein Vater, der 1870 / 71 in den Krieg gezogen war, hatte davon erzählt, wie manche Kameraden am Abend vor der Schlacht genau gewusst hatten, dass sie fallen würden.
    Hermann Kappe starrte in die Kerze, die auf seinem Schreibtisch stand. Viel fehlte nicht mehr, dann war sie heruntergebrannt. Er stand auf und sah seinem Kaiser, dessen Bild säuberlich geputzt an der Wand der Wache hing, lange ins Gesicht. In den blassblauen Augen Seiner Majestät Wilhelm II. glaubte er ein geringschätziges Lächeln zu erkennen. Das mochte wohl mit seiner Figur zusammenhängen. Mit seinen 175 Zentimetern Körpergröße hätte Hermann Kappe keine Chance gehabt, von Friedrich Wilhelm I. in die Schar der Langen Kerls eingereiht zu werden. Doch was ihm an Länge fehlen mochte, glich er an Breite wieder aus, das heißt, er war sehr kompakt gebaut und hätte auch als Ringer oder Boxer eine Chance gehabt. Bei Menschen seines Typus bestand die Gefahr, im Alter korpulent zu werden, doch das musste ihn im Augenblick nicht kümmern, war er doch im Februar gerade erst 22 Jahre alt geworden. Schnell laufen und gut springen konnte er, hoch wie weit, aber er war nicht eben wendig und ein schlechter Turner. Auf dem Kasernenhof hatte ihm das einigen Spott seines Feldwebels wie seiner Kameraden eingebracht: «Der hängt ja wie ’n nasser Sack an der Reckstange!»
    Kappe hatte in Berlin bei den Grenadieren gedient, und sein großer Traum war es, in die Hauptstadt zu gehen und dort sein Glück zu machen. Aber hatte er das nötige Format dazu? Schaute er in den Spiegel, kamen ihm Zweifel. Zu rund und gemütlich sah er aus, hatte noch ein richtiges Kindergesicht. Da half sein martialischer Bart nur wenig. Ein Krieger schaute anders aus. Auch mit seiner Augenfarbe war er unzufrieden: Vergissmeinnicht war nichts für einen richtigen Mann.
    Kappe war Schutzmann in jenem Storkow, das in südöstlicher Richtung rund fünfzig Kilometer von Berlins Stadtmitte entfernt an einem langgestreckten See zu finden ist. Manchmal wurde es mit der gleichnamigen Ortschaft in der Nähe Zehdenicks verwechselt. Da in der Gegend um den Storkower und den Scharmützelsee eine Diebesbande ihr Unwesen trieb, hatte Kappe sich entschlossen, nach Einbruch der Dämmerung noch einmal einen kleinen Rundgang durch sein Revier zu unternehmen. Doch als er die Wache verließ, kamen ihm Bedenken. Es schien gewittern zu wollen, und schon als Kind hatte er immer eine fürchterliche Angst davor gehabt, vom Blitz getroffen zu werden. Er gab sich einen Ruck und wandte sich zur Schleuse hin. Besonders Obacht zu geben war darauf, dass in der Nähe der alten holländischen Hebebrücke kein Lagerfeuer entzündet wurde, denn deren Holz brannte wie Zunder. Nein, es war alles in Ordnung. Auch die Kirche lag friedlich im Schein matter Laternen. Er rüttelte an der Tür. Abgeschlossen. Als er den Markplatz überquerte, kam eine Gruppe fröhlicher Zecher aus dem Hotel Berlin. Kappe grüßte militärisch, denn es waren allesamt Honoratioren.
    «Guten Abend, Herr Bürgermeister.»
    «Kappe, den Herrn da sofort festnehmen!», rief der Apotheker und zeigte auf das Storkower Stadtoberhaupt. «Das ist ein. ..»
    «Nicht doch, Jochen.» Der Arzt bemühte sich, dem Apotheker den Mund zuzuhalten.
    «Peng! Peng!», machte der Apotheker und zielte mit seinem Zeigefinger, als sei der ein Pistolenlauf, auf den Rektor.
    «Seid doch nicht so albern!», schrie der Rektor und schwang einen abgerissenen Zweig wie einen Rohrstock. «Setzen, sonst. ..! Hier wird nicht Tschech gespielt.»
    Kappe wandte sich ab. Es war ihm immer peinlich, wenn sich ehrbare Männer wie Kinder benahmen. Wenn die Jungen in Storkow Tschech spielten, ging er immer dazwischen, um das zu unterbinden, aber jetzt. ..? Er empfand das Tschech-Spiel als zutiefst pietätlos. Schön, die Geschichte war inzwischen 66 Jahre her, aber trotzdem. .. Am 26. Juli 1844 hatte der Storkower Bürgermeister Heinrich Ludwig Tschech im Hof des Berliner Schlosses ein Pistolenattentat auf Friedrich Wilhelm IV. verübt. Tschech war in Storkow entlassen worden, nachdem er sich mit der herrschenden Clique angelegt hatte, und war in Rage geraten, weil ihm der preußische Staat nirgendwo eine andere Stelle geben wollte. Zwar war der König nur leicht verletzt worden, aber Kappe fürchtete, dass damit für immer und ewig ein Makel auf Storkow liegen
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