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Dem Himmel entgegen

Dem Himmel entgegen

Titel: Dem Himmel entgegen
Autoren: Mary Monroe
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ihren liebsten Begleiter. Sie trug die Feder an einem Lederband immer um den Hals.
    Ella vermisste Lijah wohl am meisten. In den ersten Monaten nach dem Feuer hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, ihn doch noch wiederzusehen. Jedes Mal, wenn sie einen schlanken dunkelhäutigen Mann über die Straße laufen oder in einer Gruppe stehen sah, hielt sie inne. Ihr stockte der Atem, wenn sie meinte, ihn auf freiem Feld oder im Wald oder am Strand zu erblicken. Aber es war nie Lijah. Doch jedes Mal, wenn Harris oder sie einen Adler über sich kreisen sahen, schauten sie sich an und lächelten – dann dachten sie an Lijah, den Beobachter, der zu ihnen an den abgelegensten Platz der Welt gekommen war, um kranken Vögeln zu helfen.
    Brady kam näher, und seine Anspannung war greifbar. Ihre Blicke trafen sich – Schüler und Lehrer –, und Harris signalisierte ihm seine Bereitschaft. Dann streckte er vorsichtig die Hand aus, um die Krallen des Tieres sicher mit seinen Schutzhandschuhen zu greifen. Der Adler zuckte bei der Übergabe zusammen, spreizte seine Krallen und breitete die Flügel aus. Harris hielt ihn sicher und brachte den mächtigen Vogel bald wieder unter seine Kontrolle. Er beruhigte den Vogel und stand still, bis die Zuschauer sich um ihn herum versammelt hatten.
    Als die Gruppe leise war, gab er Brady ein Zeichen. Der Junge trat an ihn heran und entfernt die Haube vom Kopf des Adlers. Das Tier wich zurück. Die gelben Augen schienen wie grelle Lichter aus seinem weißen Gefieder hervor. Der Adler war vor einiger Zeit halb tot und mit Maden übersät in die Klinik eingeliefert worden. Er hatte sich vergiftet. Das Team hatte das Tier nicht aufgegeben und hart mit ihm gearbeitet – und schließlich gewonnen. Sieh ihn dir an, dachte Harris, und seine Augen leuchteten. Das schwarze Gefieder bedeckte den kräftigen Körper, und der Adler war ein schöner Vertreter seiner Art, stark und kämpferisch. Er war fähig und willig, zu fliegen und sein Leben wieder zu leben.
    Harris betrachtete das Tier und spürte erneut das Verlangen, eins zu werden mit dem Geist des Vogels. Lange Zeit hatte er nicht geglaubt, diesen Schritt jemals machen zu können. Die Schatten seiner Vergangenheit hatten auf ihm gelastet, hatten seine Wahrnehmung beschränkt, seine Sicht seiner eigenen Person und der Welt. Er hatte geglaubt, dass nur wenige Schamanen überhaupt die Gabe hatten, eins zu werden mit den Kräften der Natur.
    Aber Lijah hatte ihm beigebracht, dass alle Lebewesen in der Natur verbunden waren. Es gab kein göttliches Geheimnis, kein Mysterium, das aufgedeckt werden konnte. Man konnte es nicht verstehen, nur spüren. Es war nicht mit dem Verstand zu erklären, sondern mit dem Herzen zu fühlen. Das Paradies war hier auf Erden, man musste nur seine Augen öffnen, um es zu erkennen. Harris hatte versucht, nur mit den Vögeln zu kommunizieren, doch Lijah hatte ihm erklärt, dass man ein Lebewesen nicht von dem anderen trennen konnte. Mit den Vögeln zu sprechen hieß, mit allen anderen Lebewesen zu sprechen, mit Pflanzen und vor allem mit den Menschen. Alles war verbunden.
    Erst, als er das verstanden hatte, konnte er sich der Liebe öffnen – und dem Mitgefühl, der Demut, dem Verständnis und dem Verzeihen. Und schließlich dem süßesten Glück und der größten Freude, die er jemals erfahren hatte.
    Ein rauer Wind wehte durch die Bäume und zerrte an den hohen Gräsern. Ella stellte ihren Kragen auf. Brady strich sich das Haar zurück, das ihm ins Gesicht geweht war. Marion hielt gespannt ihre Adlerfeder fest, die vom Wind hochgeweht worden war. Der Adler hob den Kopf, spürte den Duft der Freiheit in der Luft. Harris atmete dieselbe Luft und fühlte die Verbindung.
    Es war an der Zeit, ihn nach Hause zu schicken.
    Die Gruppe schwieg erwartungsvoll. Harris drehte sich in den Wind. Die Luft war frisch, aufgewühlt, herausfordernd. Der Adler auf seinem Arm war angespannt, seine Augen voller Leben.
    “Viel Glück”, murmelte Harris.
    Dann hob er den Arm und öffnete die Hand.
    Der Adler beugte sich vor, breitete die langen kraftvollen Flügel aus, stieß sich elegant ab, erhob sich in die Luft. Sein Weg in die Freiheit führte ihn immer weiter in den Himmel. Das Tier fand Aufwind, spreizte die Flügel und ließ sich mit dem Wind weitertragen. Ohne zu sinken oder die Schwingen zu bewegen, schien es die Erdanziehung außer Kraft gesetzt zu haben. Harris spürte einen Kloß im Hals, und er spürte, wie er im Geiste mit dem
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