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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht
Autoren: Kai Meyer
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passiert ? « Sie ließ die Hand m it der Einladung sinken. Samstagabend, stand darauf. Und ein Datu m . »Bin ich … ich w eiß nicht, überfallen worden ? «
    Er hörte nicht auf, sich zu kratzen. Das Geräusch erschien i h r j e tzt la u t er a l s s eine Stim m e . »Jul a s Beerdigung liegt fast ein Jahr zurück.«
    »Ein Jahr!«
    »Meine Güte, Sie erinnern sich wirklich an nichts!« Dabei hatte sie geglaubt, sie erinnere sich schon wieder
    an eine ganze Menge. Aber fast ein Jahr!
    Sager m usterte sie aus dunklen Augen. Er war f ast einen Kopf größer als sie, aber weil sie im Sessel saß u nd er auf der weichen Matratze, überragte sie ihn um eine Handbreit. Er trug noch immer seinen Mantel, ein fleckiges, zerschlissenes Ding, das nie m als modern, aber sicherlich ein m al sauber gewesen war. W er weiß, wie
    lange das her war.
    »Ich nenne Ihnen ein paar N a m en. Vielleicht erinnern  Sie sich dann an m ehr.«
    Sie nickte. Angesichts der W ildheit, m it der er seine Brust kratzte, würde er bald auf die Rippen stoßen. Die Laute klangen jetzt wie das R itsc h -Ratsch scharfer Messer k lin g en.
    »Elohim von Fürstenberg«, begann er.
    Sie wedelte kra f tlos m it dem Stück Papier. »Der zweite N a m e auf der Einladung. Aber sonst … nein.« Sie schüttelte den Kopf.
    »Ursi van der Heden. Torben Grapow.« Nein, dachte sie. Oder?
    »An keinen?«
    Sie ließ sich Zeit, die N a m en einsickern zu lassen. Im ersten Moment waren sie n i chtssagend von ihr abgeprallt, aber dann, ganz all m ählich, s t ellte sich etwas wie eine vage Vertrautheit ein.
    »Felix Masken«, sagte er m it Nachdruck. »Sie müssen  sich an Ma s ken erin n er n .«
    Die Bilder ü berschwem m t en sie wie eine Fl u t .
    Sager beugte sich vor. »Sie erinnern sich, nicht w ahr ? « Ja, dachte sie, ich erinnere m i ch.
    Er zog die Hand unter dem H e m d hervor und betrachtete e m otionslos seine Finger.
    Masken, d a chte sie no c h ein m al, und ihre Augen f üllt e n sich m it Tränen.
    Sagers Fingernägel glänzt e n, Halbmonde aus frischem  Blut.
      
      
     
     
    ZEHN MONATE ZUVOR
      
     
    Eins
     
     
     
    Berlin 1922
     
     
    Die Beerdigung war zu Ende, aber noch im m e r standen alle am offenen Grab. Standen da und starrten, aber nie m and w e inte um die Tote.
    Chiara hielt sich im Hintergrund. Auf d e m Friedhof drängten sich Hunderte von Menschen. Tausend oder zweitausend m ehr warteten draußen vor dem Tor, im Zaum gehalten von S i cherheits l euten, die Gott weiß wer bezahlte. Felix Masken, vielleicht, Julas Entdecker und Förderer.
    Sie hatte ihn vorhin am Grab gesehen, zwischen all den anderen bekannten Gesichtern, deren N a m en sie vergessen hatte; und jenen Gesicht e rn, die beina h e nie m and erkannte, die aber wie zum Ausgl e ich berüh m te Na m en trugen: Produzenten, Ka m eraleute und Regisseure, die m it Jula gear be it e t hatten. Einer war ihr au f ge f allen, Fritz Lang, ein großer, schlanker Mann mit Monokel. Sie hatte einen oder zwei seiner F il m e gesehen. Sein Bild tauchte ab und an als Karikatur in den Zeitungen auf, w e nn es um Klatsch und Tratsch aus der Fil m st adt Berlin ging. In Meißen hatten sich nur wenige da f ür int e res s i e rt, in der Provinz hatte m an andere Sorgen.
    Je m and spielte Geige, aber zwi s chen all den M enschen konnte sie den Musiker nicht sehen. Eine traurige Melodie, die Jula ver m utlich ge h asst hätte.
    Aber was wusste Chiara scho n ? S i e hatte J u la in den vergangenen sieben Jahre kein einziges Mal gesehen, seit ihre ältere Schwester Meißen den Rücken gekehrt hatte
    und nach Berlin gegangen war. Ihr Vater hatte es auf den schlechten Einfluss einiger Leute geschoben, denen sie in den W och e n zuvor begegnet war. Aber Chiara war sich dessen nicht so sicher. Jula war aus den Enge ihrer Hei m at geflohen, weil sie es dort nicht mehr ausgehalten hatte. Viell e icht a uch, weil si e in ei n em Alter gewe s en war, in dem man solche Entscheidungen eben trifft.
    Jula war da m als zweiundzwanzig gewesen, Chiara siebzehn. Und während Jula berüh m t wurde – und vielleicht sogar Gefallen an traurigen Melodien gefunden hatte, wer weiß –, war Chiara daheim geblieben, hatte für ihren Vater gekocht, sich dafür gehasst, ihn aber letztlich nur u m so m ehr geliebt. Ihr war keine andere W ahl geblieben, als ihm in der W erkstatt im Hinterhaus zu helfen, in seiner »Manu f aktur für Schreib b locks, Rechnungsbücher und Durchschreibebücher«. Kein lukratives
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